GUSTAV STRUVE
Gustav Struve wurde 1805 als Sohn eines russischen Diplomaten in München geboren. Nach seinem Studium der Rechtswissenschaft war er zunächst als Gesandter und Assessor im oldenburgischen Staatsdienst tätig, ehe er um seine Entlassung bat und nach Mannheim übersiedelte. Bereits früh erkannte er die gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten, deren Bekämpfung er den Rest seines Lebens widmete. Selbst für das Lager der radikalen Demokraten ungewöhnlich progressiv war dabei sein unermüdlicher Einsatz für die Gleichberechtigung der Geschlechter. Seine Ideale setzte er konsequent auch in seinem eigenen Leben um und schreckte dabei vor persönlichen Nachteilen nicht zurück: Seine 1845 geschlossene Ehe mit der nicht standesgemäßen Amalie Düsar führte zum Zerwürfnis mit seiner Familie; seinen Adelstitel legte er 1847 als Zeichen seiner republikanischen Überzeugung freiwillig ab. Als langjähriger Weggefährte und enger Vertrauter Friedrich Heckers gehörte Struve im April 1848 zu den Anführern des Heckeraufstands. Nach dessen Scheitern floh er in die Schweiz, von wo aus er im September einen zweiten bewaffneten Aufstand in Baden wagte. Nach dessen Scheitern wurde er von anderen Revolutionären aus dem Gefängnis befreit und wanderte nach einigen Monaten in der Schweiz in die USA aus. Getreu seiner tiefen Überzeugung, dass nur Bildung für alle die Gesellschaft frei machen könne, intensivierte er in den USA seine ohnehin rege Publikationstätigkeit noch weiter. Im Herzen seines schriftstellerischen Vermächtnisses steht eine zehnbändige, auf jeder Seite von seinen Idealen zeugende Weltgeschichte.
Gustav Struve wurde am 11. Oktober 1805 als Sohn eines russischen Diplomaten in München geboren.
Struve trat 1827 in den Staatsdienst des Großherzogtums Oldenburg ein und diente als Gesandter und Assessor.
Nach seiner selbst erbetenen Entlassung wanderte er nach Baden aus und ließ sich in Mannheim nieder, wo er schließlich als Advokat arbeitete.
Ab 1845 war er als Redakteur des Mannheimer Journals tätig. Seine demokratischen Positionen brachten ihn in regelmäßige Konflikte mit der Zensur. Im selben Jahr heiratete er Amalie Düsar.
Struve legte 1847 freiwillig seinen Adelstitel ab, den er aufgrund seiner Überzeugungen nicht mehr führen wollte.
Struve beteiligte sich im April des Jahres in führender Position am Heckerzug und führte im September von der Schweiz aus einen weiteren Aufstandsversuch an, bei dem er gefangen genommen wurde.
Nach seiner Verurteilung zu acht Jahren Zuchthaus wird Struve im Mai von anderen Revolutionären aus dem Gefängnis befreit.
Wegen seiner anhaltenden Agitation aus der Schweiz ausgewiesen, wanderte Struve in die USA aus. Sein politisches Engagement hielt auch hier an.
Struve nahm in der Unionsarmee am Amerikanischen Bürgerkrieg teil, wobei er vom einfachen Mannschaftsgrad bis zum Offizier aufstieg.
Nach der allgemeinen Begnadigung durch den badischen Großherzog 1862 kehrte Struve nach Deutschland zurück.
Gustav Struve starb am 21. August 1870 in Wien.
„Es ist bekannt, dass in Holland, Frankreich und Nordamerika Juden und Christen vor dem bürgerlichen und politischen Gesetze gleich sind. Diese Rechtsgleichheit, welche in diesen Ländern seit Jahrzehnten besteht, hat niemals zur geringsten Beschwerde von Seiten der Christen Veranlassung gegeben, im Gegenteile wurden die vaterländischen Gesinnungen, welche die Juden bei mehreren bedeutungsvollen Ereignissen daselbst bewährten, wiederholt öffentlich von den Behörden sowohl als der Presse rühmend anerkannt. Auch in England, diesem Lande engherziger religiöser Gesinnung, fängt man an zu erkennen, dass es dem Geiste des Christentums widerspricht, eine Religionsgenossenschaft, ihrer religiösen Überzeugung wegen, mit politischen Nachteilen zu belegen. Allein in Deutschland ist das Spießbürgertum an manchen Orten noch viel zu mächtig, als dass es möglich wäre, freieren Ansichten in Betreff der Rechtsverhältnisse der Juden praktischen Eingang zu verschaffen.
Jede bedeutungsvollere Frage des Lebens, deren Wirksamkeit sich auf Millionen erstreckt, müssen wir immer von zwei Gesichtspunkten aus betrachten, wenn wir sie ergründen wollen: aus dem moralischen und aus dem vaterländischen. Die Moral sagt uns: die religiöse Überzeugung des Menschen muss ungebunden, die Gewissensfreiheit aller unserer Mitbürger muss uns heilig sein. Jeden Eingriff in dieselbe müssen wir bekämpfen als den Ausfluss religiöser Intoleranz und Beschränktheit.
[…]
Die Intoleranz sieht aber in dem Juden einen religiösen Gegner, und das Spießbürgertum einen Gewerbskonkurrenten, daher reichen sich beide die Hände gegen ihn. Gewerbliche, religiöse, bürgerliche und politische Einwendungen werden leicht gefunden, wenn man einen Gegner, auf welchen man mit Verfolgungssucht, Neid und Eifersucht blickt, drücken will. Man spricht von Verschiedenheit der Nationalität, allein man bedenkt nicht, dass die Taufe diese unberührt lässt, man beruft sich auf das Christentum, allein dieses ist die Religion der Liebe und nicht der Verfolgung. Die Juden, sagt man, feiern ihren heiligen Tag am Samstag, und sie haben die Beschneidung – allein dieses ist nicht bloß der Fall in Deutschland, sondern auch in Frankreich, Holland und Nordamerika, ohne dass daraus für die Christen der geringste Nachteil erwachsen wäre. Hat man alle diese und ähnliche Einwendungen widerlegt, so kommt man am Ende dahin, dass der Gegner der Juden ausruft: ‘Ich mag die Juden nicht, ich will nicht, dass sie gleiche Rechte mit mir haben sollen.’ Da haben wir denn in andern Worten den alten Satz:
‘Ich will es und befehl’s,
Dies ist ein guter Grund.’
Wenn sich eine Regierung auf diesen Grund beruft, da wird natürlich geschrien; allein der Eigennutz glaubt sich desselben wohl bedienen und sich doch zugleich für höchst liberal ausgeben zu dürfen. Da haben wir wieder den falschen Liberalismus, welcher zwar selbst alle möglichen Freiheiten haben, aber seinem Nächsten, namentlich seinem Konkurrenten, möglichst wenig einräumen will.
[…]
Wir sehen in der bürgerlichen und politischen Zurücksetzung der Juden des Glaubens wegen vor allen Dingen eine Verletzung der durch das Christentum gebotenen Liebe, Milde und Gerechtigkeit, allein zu gleicher Zeit auch den größten Verstoß gegen die Gesetze einer gesunden Politik. Diese lehrt alle Bestandteile eines nationalen Ganzen möglichst kräftig zu vereinigen, also alle Schranken möglichst zu beseitigen, welche seine Teile trennen möchten. Die Gesetze, welche die Juden den Christen feindlich gegenüberstellen, indem sie ihnen die allgemeinen bürgerlichen und politischen Rechte verweigern, bilden umso gefährlichere Schranken, je leichter es jetzt den deutschen Juden wird, durch Auswanderung nach Frankreich, Holland und Nordamerika vollständige Rechtsgleichheit mit den Christen zu erlangen. Der bigotte Christ mag sich dann freuen, irrgläubige Juden, der beschränkte Spießbürger, seinen Gewerbskonkurrenten verdrängt zu haben – allein das deutsche Vaterland wird hunderttausende gewerbfleißige Bürger, Millionen in barem Gelde, reiche Schätze an Kenntnissen und Talenten verloren haben. Denn gerade diejenigen, welche alles dieses besitzen, werden den auf ihnen lastenden Druck am schwersten empfinden. Der arme Schacherjude macht sich wenig aus politischen Rechten, obgleich er wohl vielleicht bei ausbrechenden Kriegen seinen Unmut zu fühlen aufgefordert sein möchte; allein gerade der höher strebende, reich begabte und daher für das deutsche Vaterland höchst bedeutungsvolle jüdische Mitbürger wird uns durch die ungerechten Gesetze entfremdet, welche ihn seiner Religion wegen zurücksetzen.
Diese Rücksicht ist in politischer Beziehung wohl der Erwägung wert. Allein wir wiederholen es, der moralische, der Gesichtspunkt der Gewissensfreiheit, der Rechtswidrigkeit politischer Bedrückung um des Glaubens willen gibt, in unseren Augen den Ausschlag. Die Gesetze, welche deutschen Juden ihres Glaubens wegen die allgemeinen Rechte eines Vollbürgers entziehen, sind unedel, lieblos, ungerecht, und bedrohen das deutsche Vaterland mit schweren politischen Nachteilen.”1
1 Gustav Struve: Politisches Taschenbuch für das deutsche Volk, Frankfurt am Main 1846, S. 121–131.
„Die Erde ist so groß und ihre Gaben sind so reich, dass, bei nur einigermaßen gleichheitlicher Teilung alle Menschen frei von Nahrungssorgen sein könnten. Doch die Mehrzahl ihrer Bewohner hat keinen Anteil an den Gütern dieser Welt. Schlaue Betrüger verweisen sie auf einen Himmel jenseits und auf Unterwerfung diesseits. Aberglauben und Knechtsinn verbinden sich mit dem Betruge und der Tyrannei, um den Menschen statt eines wirklichen irdischen Paradieses den Schatten eines jenseitigen zu geben. Wir haben uns weit von dem Zustande der Natur, von der vernünftigen Gleichheit und von der Brüderlichkeit entfernt, zu weit, als dass die Gesellschaft glücklich sein könnte, solange sie in ihrer dermaligen Verwirrung bleibt. Das Altertum hatte die Sklaverei, das Mittelalter die Leibeigenschaft, die Neuzeit setzte an deren Stelle die Stände der besitzlosen Arbeiter und der hilfsbedürftigen Armen, ohne die Leibeigenschaft und die Sklaverei gänzlich abzuschaffen. Es wirft einen trüben Schein auf unsere sogenannten zivilisierten Staaten, dass es in deren Mitte eine so große Zahl hilfsbedürftiger Armen gibt. In einem wohlorganisierten Staat sollte unverschuldete Armut gar nicht vorkommen. Weiterlesen
Dass die Armut aber fast ausschließlich die Folge unserer mangelhaften gesellschaftlichen Zustände ist, erhellt sich aus der Tatsache, dass sie in demselben Maße groß oder gering, in welchem ein Staat geknechtet oder frei ist. Die wenigsten Armen finden sich in den nordamerikanischen Freistaaten und in der Schweiz, die meisten in Großbritannien und Irland, in Deutschland, Frankreich, Italien und den übrigen Staaten, welche unter der Herrschaft der Monarchen, Aristokraten, Pfaffen, Bürokraten, Soldaten und Geldwucherer stehen.
Seit Jahrhunderten wurde die Welt von Monarchen, Aristokraten und Pfaffen, seit Jahrzehnten von Beamten, Soldaten und Wucherern gebrandschatzt. In unseren Tagen gibt es Arme, weil in den Tagen unserer Väter die Machthaber stahlen und betrogen. Doch lassen wir die ferne Vergangenheit! […] Die reichen Bedrücker werden reicher, die armen Bedrückten immer ärmer. Rechnen wir die Summen zusammen, welche die fünfhundert reichsten Familien Europas mithilfe der ihnen zu Gebote stehenden Gewalt erpresst haben, so kommen wir zu einer Vermögensmasse von zehn Milliarden Gulden. Vor vier Jahrzehnten besaßen diese fünfhundert Familien vielleicht nicht eine Milliarde. Die neun übrigen haben sie erworben, und da sie selbst nichts produziert, so haben sie augenscheinlich diese ungeheure Vermögensmasse dem Volke entzogen. Der Mittelstand hat an Zahl und Bedeutung ab-, die ganz Armen und die sehr Reichen haben zugenommen. Die Armut der Völker steht in dem innigsten Zusammenhange mit dem Reichtume ihrer Bedrücker. Sie wird fortdauern, bis diese von den Sitzen ihrer Gewalt verdrängt sind.
In den Händen einiger hundert Schurken vereinigt sich zugleich die ganze politische und kirchliche Herrschergewalt und der Geldmarkt. Wenn diese Monopolisten nicht wollen, so können die Handelsleute keine Geschäfte machen, die Fabrikanten nicht arbeiten lassen, haben die Arbeiter kein Brot, steht die ganze Produktionsmaschine still. Da aber darum doch die Bedürfnisse der Menschen fortdauern, so entsteht eine furchtbare Not, welche für die Tyrannen der Erde ein Mittel wird, die Völker in der Unterwerfung zu erhalten.
[…]
Die Aufgabe der neuen Gesellschaft ist, den Überfluss der bevorzugten Stände den hilfsbedürftigen Armen und den besitzlosen Arbeitern zuzuführen, den Raub, den sie im Laufe der Jahrhunderte anhäuften und welcher größtenteils zum Verderben der Menschheit angewendet wird, zu ihrem Besten zu verwenden, der Armut zugleich mit dem Überflusse ein Ende zu machen. Wenn ein Mensch für Hunderte oder Tausende isst, müssen Hunderte oder Tausende hungern. Wenn ein Mensch die Wohnung von Hunderten oder Tausenden einnimmt, so fehlt es Hunderten oder Tausenden an einem heimischen Herde. Die Armut ist wohl eine bessere Schule als der Reichtum. Allein darum soll der Menschenfreund ihr doch ein Ziel zu setzen suchen. Auch wenn der Staats seine Schuldigkeit tut, wird die Armut doch nicht leichten Kaufes ausgerottet werden. Die unverschuldete Armut, die Armut des fleißigen Arbeiters ist eine Schmach für die ganze Gesellschaft. In einem gut organisierten Staate sind nur diejenigen arm, welche jetzt reich sind: die Trägen, die Lasterhaften und die Verbrecher.
Wenn wir absehen von den Verhältnissen, wie sie sich im Laufe der Jahrhunderte durch List und Gewalttat gebildet haben und die Vernunft als einzige Richtschnur des Lebens betrachten, so unterliegt es keinem Zweifel, dass nur die Arbeit einem Menschen ein Vorrecht, ein ausschließliches Eigentum an irgend einem Gegenstande verleihen kann. Es gibt nur eine wahrhaft vernünftige Erwerbsart. Das ist die Arbeit. Andere Erwerbsarten mögen wohl durch die Gesetze einzelner Staaten geheiligt worden sein, wie zum Beispiel das Erbrecht, die Eroberung und die Verjährung. Allein einen vernünftigen Grund haben sie nicht. Es ist eine betrübende Erscheinung, dass durchschnittlich der Arbeiter im Laufe eines ganzen Lebens, voll von Mühen, nicht dazu gelangen kann, auch nur einen kleinen Teil dieser Erde sein zu nennen, auch nur gegen die drückenden Sorgen geschützt zu sein, während eine geringe Zahl von Müßiggängern über alle Genüsse dieses Lebens verfügt.
[…]
Reich sind die Verwandten und Familien der Tyrannen, reich die Aristokraten, deren Voreltern Raubritter waren, und welche selbst vom Marke ihrer Grundholden leben, reich sind die Großwürdenträger der Kirche, welche die Menschen in der Dummheit erhalten, reich die Minister, welche die Völker drücken. Der übermäßige Reichtum der Tyrannen der Erde ist die Folge vielhundertjährigen Drucks, vielhundertjährigen Unrechts, wie die Armut der Massen die notwendige Folge jenes Reichtums ist. Die Arbeitskraft der Menschen ist nicht so groß, dass sie, ohne Mangel zu leiden, außer den eigenen Bedürfnissen auch noch die unersättliche Habsucht ihrer Despoten befriedigen könnte. Eine der ersten Aufgaben des freien Staats geht dahin, dem Arbeiter die Früchte seiner Arbeit unverkümmert zuzuwenden. Dieser Zweck lässt sich nur erreichen durch vollständige Umänderung unserer bürgerlichen Gesetze. Wie glücklich könnten die Menschen leben, wenn die Gesellschaft auf richtigen Grundsätzen beruhte! Doch das Elend der Massen wird immer größer, je frecher die Despoten der Erde alle Menschenrechte mit Füßen treten. Nur die Arbeit begründet ein ausschließliches Recht auf die Erde oder ihre Erzeugnisse. Nur das durch eigene Arbeit erworbene Eigentum bietet dem Besitzer einen reinen Genuss. An dem Eigentum, welches der Besitzer nicht durch seine Arbeit gewonnen hat, klebt im günstigsten Falle der Schweiß des Arbeiters, der es erzeugte, ohne sein Anrecht daran geltend machen zu können. Häufig klebt daran aber das Blut gemordeter Menschen und die Asche versengter Fluren und Häuser. Die Gold- und Silberbarren, welche die Wucherer in ihren Gewölben bewahren, sind die Früchte der Erpressungen, durch welche Millionen in Jammer und Elend gestürzt wurden. Die Paläste und Lustgärten der Despoten Europas bilden nur das Widerspiel ihrer Schafotte und Kerker, die Perlen und das Geschmeide ihrer Frauen und Töchter das Gegenstück zu den Ketten, welche die Männer der Freiheit tragen. Arbeit ohne Eigentum ist ebenso widersinnig, als Eigentum ohne Arbeit. Wer nicht arbeiten kann, fällt der Fürsorge der Gesellschaft anheim: das Kind, der Greis und der Kranke. Wer aber arbeitet, dem soll kein Dritter die Frucht seiner Mühen rauben.”1
1 Gustav Struve: Weltgeschichte in neun Büchern. Sechster Band. Zweiter Teil. Von 1815 bis 1848, Nachdruck der Originalausgabe von 1860, Coburg 1864, S. 882–886.
„Die Hälfte der Menschen ist weiblichen Geschlechts. Bevor die Frauen ihre richtige Stellung in der Gesellschaft gefunden haben, kann die Menschheit sich unmöglich rein und frisch entwickeln. Jedes Missverhältnis, welches das weibliche Geschlecht betrifft, berührt die Menschheit in ihren tiefsten Tiefen. Zu allen Zeiten und bei allen Völkern nahmen die Frauen diejenige Stellung ein, welche ihnen die herrschende Meinung anwies. Die Griechen und Römer waren zwar in ihren guten Zeiten Republikaner, allein ihre Anschauungsweise beruhte wesentlich auf dem Vorrechte; auf dem Vorrechte des Freien gegenüber dem Sklaven, des Vollbürgers gegenüber der rechtlosen Menge, des Mitbürgers gegenüber dem Barbaren. Das Christentum hat zuerst den Grundsatz allgemeiner Menschenliebe und Brüderlichkeit aufgestellt, welcher seit der französischen Revolution in die Formel: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit” gefasst wird. In neuester Zeit wird viel von der Solidarität der Völker gesprochen. Die Schranken, welche früher die Menschen trennten, sollen schwinden. Alle sollen für einen, einer für alle einstehen – im Kampfe der Freiheit. Wie passen diese Ideen der Neuzeit zu den Zuständen, in deren Mitte wir uns bewegen, und namentlich zu der Stellung, welche die Frau im Leben einnimmt? Weiterlesen
Die Völker sollen die alten Vorurteile, welche sie früher trennten, fallen lassen und sich gegenseitig als gleichberechtigte Glieder der großen Familie betrachten, welche die Erde bewohnt. Die Stufen sollen entfernt werden, auf welchen früher die verschiedenen Stände feindlich über und untereinander standen. Gleiche Rechte und gleiche Pflichten ist der Wahlspruch unserer Zeit. Der Deutsche reicht freudig dem Italiener, dem Ungarn, dem Franzosen und selbst jenseits des Ozeans dem Amerikaner die Hand zum Bruderbunde. Doch steht der deutsche Mann der deutschen Frau gewiss näher, als dem Amerikaner oder dem Engländer. Sollen die Menschen alle gleichberechtigt sein, selbst wenn sie durch Sprache und Abstammung, durch Geschichte und Sitten weit von uns verschieden sind, und die Frauen, welche Fleisch von unserem Fleische und Geist von unserem Geiste sind, sollten nicht gleichberechtigt uns zur Seite stehen? Ist das vernünftig, ist das folgerecht? Oder sind die Frauen etwa keine Menschen?
[…]
Mögen die Tyrannen immerhin der einen Hälfte des Menschengeschlechts, den Frauen, ihren gleichen Anteil an den Rechten und mit diesem an den Freuden, Genüssen und Entwicklungen des Lebens versagen. Versagen sie doch auch das gleiche Recht der großen Masse der Männer. Mit welchen Gründen kann aber der Mann, welcher Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auf sein Banner gesetzt hat, die Frau unfreier machen, als der unfreieste untertan irgendeines Fürsten ist? Mit welchem Rechte kann er ihr zurufen: ‘Du stehst mit mir nicht auf gleicher Stufe, tritt ab von der Bühne des Staates!’ Mit welchem Rechte kann er der Frau sagen: ‘Ich will nicht als Bruder Dir zur Seite, sondern als Gebieter über Dir stehen?’ Solange die Männer sich nicht selbst klar sind über die Bedeutung und den Umfang des großen Freiheitskampfes, der uns bevorsteht, solange sie es nicht verstehen, alle Kräfte sich zu verbinden, die sie darin fördern können, solange sie die Grundsätze der Neuzeit nicht in allen ihren Folgerungen annehmen, müssen sie darauf verzichten, ihre Gegner zu besiegen.
[…]
Manche haben sich gewundert, weshalb die Völker in den Jahren 1848 und 1849 den Sieg nicht erlangten. Die Ursache ihrer Niederlagen war tiefer als der Verrat Ludwig Napoleons, Görgeis1 und der Fürsten Deutschlands. Die Ursache war die Unklarheit der Begriffe in den wichtigsten Beziehungen des Lebens, die Unreinheit der Bestrebungen der meisten sogenannten Freiheitskämpfer und der Mangel an ausdauerndem Mute. Gar viele von jenen, welche sich Freiheitskämpfer nannten, waren selbst Tyrannen in ihrer Familie, in ihrer Gemeinde, in ihrem Geschäfte. Die Neuzeit verlangt Klarheit der Begriffe, Reinheit der Bestrebung und ausdauernden Mut. An die Stelle der niederen Leidenschaften, welche jetzt herrschen, müssen die höheren sittlichen Gefühle treten. Wir müssen vor allen Dingen selbst gerecht sein, selbst unbegründete Ansprüche aufgeben, bevor wir dem Unrechte unserer Gegner ein Ende machen können.”2
1 Gemeint ist der ungarische General und Politiker Artúr Görgei, der nach seiner Kapitulation gegenüber einer österreichisch-russischen Militärintervention 1849 von vielen als Verräter der Revolution betrachtet wurde. Die jüngere Forschung relativierte dieses Bild und führte auch in Ungarn zu einer Rehabilitierung seines Ansehens.
2 Ebd., S. 889–892.
„Ich glaube nicht, dass ein Volk der Erde seine Geschichte so wenig kennt, als das deutsche, nicht, als ob es sich mit derselben nicht beschäftigte, keineswegs, allein teils erhält es nur Kenntnis von demjenigen Stückchen Deutschlands, in welchem der Einzelne geboren ist und erzogen wird, teils wird ihm dieselbe in durchaus verfälschter Gestalt geboten. Ein Mann der Wissenschaft wird jene Mischung von Wahrheit und Lüge, welche Jesuiten katholischer und protestantischer Religion ihren Zöglingen als deutsche Geschichte vortragen, gewiss als solche nicht anerkennen; ebenso wenig als was der Lehrer irgendeines Kleinteils Deutschlands als solche vorträgt. Der habsburgische Geschichtslehrer behandelt sein Fach mit habsburgschen, der hohenzollernsche mit hohenzollernschen Vorurteilen; und in den deutschen Mittel- und Kleinstaaten wird gewöhnlich auch die Dynastie mehr berücksichtigt, als die Nation. Weiterlesen
Hierzu kommt, dass die Geschichte Deutschlands, infolge seiner Zerrissenheit wirklich schwerer ist, als diejenige irgend eines anderen Landes der Welt, denn sie zerfällt in 38 Spezialgeschichten, früher in noch zahlreichere, welche alle ihre Bedeutung haben und deren auch noch so kurze Erwähnungen meistenteils zu zeitraubend sein würde. Wenn vom deutschen Rechte, deutschen Handel, deutschen Zollwesen, deutschen Postwesen, deutschen Maß und Gewicht, von deutscher Münze und tausend anderen Dingen die Rede ist, dann kann sich der Geschichtsschreiber oder Lehrer nicht damit begnügen, ein System vorzutragen. Immer stehen drei, vier, fünf, bisweilen 38 nebeneinander. Diese Schwierigkeiten liegen in der Beschaffenheit Deutschlands. Allein weit größer sind diejenigen, welche aus der absichtlichen Verfälschung der Geschichte hervorgehen.
Die Schandtaten, deren sich die Machthaber der deutschen Nation gegenüber schuldig machten, sind so haarsträubend, dass dieselben nie gewagt haben, sie offen einzugestehen. Vielmehr wurde es damit regelmäßig so gehalten, dass sie anfangs verschwiegen wurden. Wenn sie im Laufe der Zeit dann doch ruchbar wurden, hat man sie einige Zeit lang abgeleugnet, und wenn auch das nichts mehr half, hat man sie teils verdreht, teils beschönigt. Bestenfalls werden sie dann von den privilegierten Geschichtslehrern in dieser beschönigten Form vorgetragen. So wurde es getrieben von den Friedensschlüssen zu Basel (1795), und Campo-Formio (1797) an und früher, bis zu den Beschlüssen von Karlsbad (1819) und Wien (1834). Wie es die Fürsten und Minister in Betreff der Staats-Aktionen, so machten es deren Geschichtsschreiber und Lehrer in ihren Geschichtsbüchern und Vorträgen.
Wie im Gebiete der Religion die Heuchelei mehr und mehr an die Stelle des Aberglaubens, so trat auf dem Felde der Geschichtsschreibung die absichtliche Fälschung an die Stelle der Unwissenheit. Besonders stark waren in dieser Beziehung die habsburgschen Geschichtsschreiber. Sie übten ihr Werk der Geschichtsverfälschung mit solcher Dreistigkeit, dass sehr viele freisinnige, allerdings nicht kritische Schriftsteller, zum Beispiel Rotteck1, sich von ihnen oft täuschen ließen, und deren absichtliche Lügen, ohne es zu wollen, weiterverbreiteten. In meiner Weltgeschichte habe ich viele dieser Maschinationen gebrandmarkt.
Das sind alles die Folgen der auf Deutschland lastenden Unfreiheit. Im gegenwärtigen Augenblicke wissen wir alle, dass Österreicher und Preußen in Schleswig2 eingerückt sind. Unter welchen Bedingungen dies geschieht, weiß das deutsche Volk nicht. Was die Kabinette von Wien und Berlin miteinander verabredet haben, werden wir ohne Zweifel erfahren, wenn es zu spät ist, den dadurch begründeten Übeln abzuhelfen. Dann wird es der deutschen Nation als vollendete Tatsache geboten werden und dann werden sofort die Speichellecker der Gewalt die vollendete Tatsache anerkennen, und jeden, der neben dem Sinn für tatsächliche Verhältnisse, sich auch Gefühl für Recht, Freiheit und Nationalität erhalten hat, als Fanatiker, als unpraktisch, oder gar als böswillig verschreien.
Ich kann mir nicht denken, dass die deutsche Nation in denjenigen Zustand der Jämmerlichkeit hätte versinken können, in welchem sie sich jetzt befindet, wenn sie von der Geschichte ihrer Vergangenheit nur einigermaßen unterrichtet wäre. Allein sie kennt nicht einmal ihre Geschichte bis zum Jahre 1848 rückwärts. Diese ist von den Hof-Geschichtsschreibern bereits dermaßen verpfuscht worden, dass sehr gründliche Studien erfordert werden, um dieselbe von den zahlreich eingeflochtenen tatsächlichen Lügen zu reinigen, ganz abgesehen von den der Sache der Freiheit ungünstigen Urteilen, welche immer Voraussetzung jedes Werkes waren, welches auf Gunst von oben berechnet war. Studium der Geschichte, je umfassender, je besser, allein wenigstens zurück bis zum Jahre 1789 oder doch 1848 ist die unabweisbare Voraussetzung eines richtigen Urteils über die politischen Zustände der Gegenwart und folgeweise einer gedeihlichen Wirksamkeit auf diesem Felde.”3
1 Karl von Rotteck.
2 1864 rückten im deutsch-dänischen Krieg preußische und österreichische Truppen in Dänemark ein, um eine engere Eingliederung Schleswigs in den dänischen Staat zu verhindern.
3 Gustav Struve: Zwanglose Hefte zur Vermittelung der Beziehungen zwischen Amerika und Deutschland. Zweites Heft, Coburg 1864, S. 116ff.
Briefwechsel zwischen einem ehemaligen und einem jetzigen Diplomaten, Mannheim 1845.
Actenstücke der Censur des Großherzoglich Badischen Regierungs-Rathes von Uria-Sarachaga. Eine Recursschrift an das Publikum, Mannheim 1845.
Politische Briefe, Mannheim 1846.
Politisches Taschenbuch für das deutsche Volk, Frankfurt am Main 1846.
Briefe über Kirche und Staat, Mannheim 1846.
Actenstücke der Mannheimer Censur und Polizei. Zweite Recursschrift an das Publikum, Mannheim 1846.
Grundzüge der Staatswissenschaft. Vier Bände, Mannheim 1847 und 1848.
Die Deutsche Diplomatie wider das deutsche Volk. Eine Sammlung wichtiger Aktenstücke. Zum Verständniß der Vergangenheit und zur Warnung für die Zukunft, Wiesbaden 1848.
Die Grundrechte des deutschen Volkes, Birsfelden 1848.
Geschichte der drei Volkserhebungen in Baden, Bern 1849.
Die Union vor dem Richterstuhle des gesunden Menschenverstandes, New York 1855.
Geschichte der Neu-Zeit. Zwei Bände, New York 1856 und 1857.
Weltgeschichte. Zehn Bände, New York 1853 bis 1864.
Diesseits und Jenseits des Oceans. Zwanglose Hefte zur Vermittelung der Beziehungen zwischen Amerika und Deutschland. Vier Hefte, Coburg 1863 und 1864.
Krieg. Zwei Hefte, Frankfurt am Main 1866.
Das Seelenleben, oder die Naturgeschichte des Menschen, Berlin 1869.
Gustav und Amalie Struve: Freiheit und Menschlichkeit. Ausgewählte Programmschriften. Zusammengestellt und eingeführt von Peter Hank (Bibliothek europäischer Freiheitsbewegungen für die Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der Deutschen Geschichte im Bundesarchiv, Bd. 2), Eggingen 2003.
Hank, Peter: Gustav Struve. Der vergessene Visionär, Freiburg 1998.
Rehm, Clemens/Hofmann, Annette R. (Hrsg.): Gustav Struve. Turner, Demokrat, Emigrant, Ubstadt-Weiher 2020.
Reimann, Matthias: Der Hochverratsprozess gegen Gustav Struve und Karl Blind. Der erste Schwurgerichtsfall in Baden, Sigmaringen 1985.
Reiß, Ansgar: Radikalismus und Exil. Gustav Struve und die Demokratie in Deutschland und Amerika, Stuttgart 2004.
Peiser, Jürgen: Gustav Struve als politischer Schriftsteller und Revolutionär, Frankfurt am Main 1973.
GUSTAV STRUVE
Gustav Struve wurde 1805 als Sohn eines russischen Diplomaten in München geboren. Nach seinem Studium der Rechtswissenschaft war er zunächst als Gesandter und Assessor im oldenburgischen Staatsdienst tätig, ehe er um seine Entlassung bat und nach Mannheim übersiedelte. Bereits früh erkannte er die gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten, deren Bekämpfung er den Rest seines Lebens widmete. Selbst für das Lager der radikalen Demokraten ungewöhnlich progressiv war dabei sein unermüdlicher Einsatz für die Gleichberechtigung der Geschlechter. Seine Ideale setzte er konsequent auch in seinem eigenen Leben um und schreckte dabei vor persönlichen Nachteilen nicht zurück: Seine 1845 geschlossene Ehe mit der nicht standesgemäßen Amalie Düsar führte zum Zerwürfnis mit seiner Familie; seinen Adelstitel legte er 1847 als Zeichen seiner republikanischen Überzeugung freiwillig ab. Als langjähriger Weggefährte und enger Vertrauter Friedrich Heckers gehörte Struve im April 1848 zu den Anführern des Heckeraufstands. Nach dessen Scheitern floh er in die Schweiz, von wo aus er im September einen zweiten bewaffneten Aufstand in Baden wagte. Nach dessen Scheitern wurde er von anderen Revolutionären aus dem Gefängnis befreit und wanderte nach einigen Monaten in der Schweiz in die USA aus. Getreu seiner tiefen Überzeugung, dass nur Bildung für alle die Gesellschaft frei machen könne, intensivierte er in den USA seine ohnehin rege Publikationstätigkeit noch weiter. Im Herzen seines schriftstellerischen Vermächtnisses steht eine zehnbändige, auf jeder Seite von seinen Idealen zeugende Weltgeschichte.
Gustav Struve wurde am 11. Oktober 1805 als Sohn eines russischen Diplomaten in München geboren.
Struve trat 1827 in den Staatsdienst des Großherzogtums Oldenburg ein und diente als Gesandter und Assessor.
Nach seiner selbst erbetenen Entlassung wanderte er nach Baden aus und ließ sich in Mannheim nieder, wo er schließlich als Advokat arbeitete.
Ab 1845 war er als Redakteur des Mannheimer Journals tätig. Seine demokratischen Positionen brachten ihn in regelmäßige Konflikte mit der Zensur. Im selben Jahr heiratete er Amalie Düsar.
Struve legte 1847 freiwillig seinen Adelstitel ab, den er aufgrund seiner Überzeugungen nicht mehr führen wollte.
Struve beteiligte sich im April des Jahres in führender Position am Heckerzug und führte im September von der Schweiz aus einen weiteren Aufstandsversuch an, bei dem er gefangen genommen wurde.
Nach seiner Verurteilung zu acht Jahren Zuchthaus wird Struve im Mai von anderen Revolutionären aus dem Gefängnis befreit.
Wegen seiner anhaltenden Agitation aus der Schweiz ausgewiesen, wanderte Struve in die USA aus. Sein politisches Engagement hielt auch hier an.
Struve nahm in der Unionsarmee am Amerikanischen Bürgerkrieg teil, wobei er vom einfachen Mannschaftsgrad bis zum Offizier aufstieg.
Nach der allgemeinen Begnadigung durch den badischen Großherzog 1862 kehrte Struve nach Deutschland zurück.
Gustav Struve starb am 21. August 1870 in Wien.
„Es ist bekannt, dass in Holland, Frankreich und Nordamerika Juden und Christen vor dem bürgerlichen und politischen Gesetze gleich sind. Diese Rechtsgleichheit, welche in diesen Ländern seit Jahrzehnten besteht, hat niemals zur geringsten Beschwerde von Seiten der Christen Veranlassung gegeben, im Gegenteile wurden die vaterländischen Gesinnungen, welche die Juden bei mehreren bedeutungsvollen Ereignissen daselbst bewährten, wiederholt öffentlich von den Behörden sowohl als der Presse rühmend anerkannt. Auch in England, diesem Lande engherziger religiöser Gesinnung, fängt man an zu erkennen, dass es dem Geiste des Christentums widerspricht, eine Religionsgenossenschaft, ihrer religiösen Überzeugung wegen, mit politischen Nachteilen zu belegen. Allein in Deutschland ist das Spießbürgertum an manchen Orten noch viel zu mächtig, als dass es möglich wäre, freieren Ansichten in Betreff der Rechtsverhältnisse der Juden praktischen Eingang zu verschaffen.
Jede bedeutungsvollere Frage des Lebens, deren Wirksamkeit sich auf Millionen erstreckt, müssen wir immer von zwei Gesichtspunkten aus betrachten, wenn wir sie ergründen wollen: aus dem moralischen und aus dem vaterländischen. Die Moral sagt uns: die religiöse Überzeugung des Menschen muss ungebunden, die Gewissensfreiheit aller unserer Mitbürger muss uns heilig sein. Jeden Eingriff in dieselbe müssen wir bekämpfen als den Ausfluss religiöser Intoleranz und Beschränktheit.
[…]
Die Intoleranz sieht aber in dem Juden einen religiösen Gegner, und das Spießbürgertum einen Gewerbskonkurrenten, daher reichen sich beide die Hände gegen ihn. Gewerbliche, religiöse, bürgerliche und politische Einwendungen werden leicht gefunden, wenn man einen Gegner, auf welchen man mit Verfolgungssucht, Neid und Eifersucht blickt, drücken will. Man spricht von Verschiedenheit der Nationalität, allein man bedenkt nicht, dass die Taufe diese unberührt lässt, man beruft sich auf das Christentum, allein dieses ist die Religion der Liebe und nicht der Verfolgung. Die Juden, sagt man, feiern ihren heiligen Tag am Samstag, und sie haben die Beschneidung – allein dieses ist nicht bloß der Fall in Deutschland, sondern auch in Frankreich, Holland und Nordamerika, ohne dass daraus für die Christen der geringste Nachteil erwachsen wäre. Hat man alle diese und ähnliche Einwendungen widerlegt, so kommt man am Ende dahin, dass der Gegner der Juden ausruft: ‘Ich mag die Juden nicht, ich will nicht, dass sie gleiche Rechte mit mir haben sollen.’ Da haben wir denn in andern Worten den alten Satz:
‘Ich will es und befehl’s,
Dies ist ein guter Grund.’
Wenn sich eine Regierung auf diesen Grund beruft, da wird natürlich geschrien; allein der Eigennutz glaubt sich desselben wohl bedienen und sich doch zugleich für höchst liberal ausgeben zu dürfen. Da haben wir wieder den falschen Liberalismus, welcher zwar selbst alle möglichen Freiheiten haben, aber seinem Nächsten, namentlich seinem Konkurrenten, möglichst wenig einräumen will.
[…]
Wir sehen in der bürgerlichen und politischen Zurücksetzung der Juden des Glaubens wegen vor allen Dingen eine Verletzung der durch das Christentum gebotenen Liebe, Milde und Gerechtigkeit, allein zu gleicher Zeit auch den größten Verstoß gegen die Gesetze einer gesunden Politik. Diese lehrt alle Bestandteile eines nationalen Ganzen möglichst kräftig zu vereinigen, also alle Schranken möglichst zu beseitigen, welche seine Teile trennen möchten. Die Gesetze, welche die Juden den Christen feindlich gegenüberstellen, indem sie ihnen die allgemeinen bürgerlichen und politischen Rechte verweigern, bilden umso gefährlichere Schranken, je leichter es jetzt den deutschen Juden wird, durch Auswanderung nach Frankreich, Holland und Nordamerika vollständige Rechtsgleichheit mit den Christen zu erlangen. Der bigotte Christ mag sich dann freuen, irrgläubige Juden, der beschränkte Spießbürger, seinen Gewerbskonkurrenten verdrängt zu haben – allein das deutsche Vaterland wird hunderttausende gewerbfleißige Bürger, Millionen in barem Gelde, reiche Schätze an Kenntnissen und Talenten verloren haben. Denn gerade diejenigen, welche alles dieses besitzen, werden den auf ihnen lastenden Druck am schwersten empfinden. Der arme Schacherjude macht sich wenig aus politischen Rechten, obgleich er wohl vielleicht bei ausbrechenden Kriegen seinen Unmut zu fühlen aufgefordert sein möchte; allein gerade der höher strebende, reich begabte und daher für das deutsche Vaterland höchst bedeutungsvolle jüdische Mitbürger wird uns durch die ungerechten Gesetze entfremdet, welche ihn seiner Religion wegen zurücksetzen.
Diese Rücksicht ist in politischer Beziehung wohl der Erwägung wert. Allein wir wiederholen es, der moralische, der Gesichtspunkt der Gewissensfreiheit, der Rechtswidrigkeit politischer Bedrückung um des Glaubens willen gibt, in unseren Augen den Ausschlag. Die Gesetze, welche deutschen Juden ihres Glaubens wegen die allgemeinen Rechte eines Vollbürgers entziehen, sind unedel, lieblos, ungerecht, und bedrohen das deutsche Vaterland mit schweren politischen Nachteilen.”1
„Die Erde ist so groß und ihre Gaben sind so reich, dass, bei nur einigermaßen gleichheitlicher Teilung alle Menschen frei von Nahrungssorgen sein könnten. Doch die Mehrzahl ihrer Bewohner hat keinen Anteil an den Gütern dieser Welt. Schlaue Betrüger verweisen sie auf einen Himmel jenseits und auf Unterwerfung diesseits. Aberglauben und Knechtsinn verbinden sich mit dem Betruge und der Tyrannei, um den Menschen statt eines wirklichen irdischen Paradieses den Schatten eines jenseitigen zu geben. Wir haben uns weit von dem Zustande der Natur, von der vernünftigen Gleichheit und von der Brüderlichkeit entfernt, zu weit, als dass die Gesellschaft glücklich sein könnte, solange sie in ihrer dermaligen Verwirrung bleibt. Das Altertum hatte die Sklaverei, das Mittelalter die Leibeigenschaft, die Neuzeit setzte an deren Stelle die Stände der besitzlosen Arbeiter und der hilfsbedürftigen Armen, ohne die Leibeigenschaft und die Sklaverei gänzlich abzuschaffen. Es wirft einen trüben Schein auf unsere sogenannten zivilisierten Staaten, dass es in deren Mitte eine so große Zahl hilfsbedürftiger Armen gibt. In einem wohlorganisierten Staat sollte unverschuldete Armut gar nicht vorkommen. Weiterlesen
Dass die Armut aber fast ausschließlich die Folge unserer mangelhaften gesellschaftlichen Zustände ist, erhellt sich aus der Tatsache, dass sie in demselben Maße groß oder gering, in welchem ein Staat geknechtet oder frei ist. Die wenigsten Armen finden sich in den nordamerikanischen Freistaaten und in der Schweiz, die meisten in Großbritannien und Irland, in Deutschland, Frankreich, Italien und den übrigen Staaten, welche unter der Herrschaft der Monarchen, Aristokraten, Pfaffen, Bürokraten, Soldaten und Geldwucherer stehen.
Seit Jahrhunderten wurde die Welt von Monarchen, Aristokraten und Pfaffen, seit Jahrzehnten von Beamten, Soldaten und Wucherern gebrandschatzt. In unseren Tagen gibt es Arme, weil in den Tagen unserer Väter die Machthaber stahlen und betrogen. Doch lassen wir die ferne Vergangenheit! […] Die reichen Bedrücker werden reicher, die armen Bedrückten immer ärmer. Rechnen wir die Summen zusammen, welche die fünfhundert reichsten Familien Europas mithilfe der ihnen zu Gebote stehenden Gewalt erpresst haben, so kommen wir zu einer Vermögensmasse von zehn Milliarden Gulden. Vor vier Jahrzehnten besaßen diese fünfhundert Familien vielleicht nicht eine Milliarde. Die neun übrigen haben sie erworben, und da sie selbst nichts produziert, so haben sie augenscheinlich diese ungeheure Vermögensmasse dem Volke entzogen. Der Mittelstand hat an Zahl und Bedeutung ab-, die ganz Armen und die sehr Reichen haben zugenommen. Die Armut der Völker steht in dem innigsten Zusammenhange mit dem Reichtume ihrer Bedrücker. Sie wird fortdauern, bis diese von den Sitzen ihrer Gewalt verdrängt sind.
In den Händen einiger hundert Schurken vereinigt sich zugleich die ganze politische und kirchliche Herrschergewalt und der Geldmarkt. Wenn diese Monopolisten nicht wollen, so können die Handelsleute keine Geschäfte machen, die Fabrikanten nicht arbeiten lassen, haben die Arbeiter kein Brot, steht die ganze Produktionsmaschine still. Da aber darum doch die Bedürfnisse der Menschen fortdauern, so entsteht eine furchtbare Not, welche für die Tyrannen der Erde ein Mittel wird, die Völker in der Unterwerfung zu erhalten.
[…]
Die Aufgabe der neuen Gesellschaft ist, den Überfluss der bevorzugten Stände den hilfsbedürftigen Armen und den besitzlosen Arbeitern zuzuführen, den Raub, den sie im Laufe der Jahrhunderte anhäuften und welcher größtenteils zum Verderben der Menschheit angewendet wird, zu ihrem Besten zu verwenden, der Armut zugleich mit dem Überflusse ein Ende zu machen. Wenn ein Mensch für Hunderte oder Tausende isst, müssen Hunderte oder Tausende hungern. Wenn ein Mensch die Wohnung von Hunderten oder Tausenden einnimmt, so fehlt es Hunderten oder Tausenden an einem heimischen Herde. Die Armut ist wohl eine bessere Schule als der Reichtum. Allein darum soll der Menschenfreund ihr doch ein Ziel zu setzen suchen. Auch wenn der Staats seine Schuldigkeit tut, wird die Armut doch nicht leichten Kaufes ausgerottet werden. Die unverschuldete Armut, die Armut des fleißigen Arbeiters ist eine Schmach für die ganze Gesellschaft. In einem gut organisierten Staate sind nur diejenigen arm, welche jetzt reich sind: die Trägen, die Lasterhaften und die Verbrecher.
Wenn wir absehen von den Verhältnissen, wie sie sich im Laufe der Jahrhunderte durch List und Gewalttat gebildet haben und die Vernunft als einzige Richtschnur des Lebens betrachten, so unterliegt es keinem Zweifel, dass nur die Arbeit einem Menschen ein Vorrecht, ein ausschließliches Eigentum an irgend einem Gegenstande verleihen kann. Es gibt nur eine wahrhaft vernünftige Erwerbsart. Das ist die Arbeit. Andere Erwerbsarten mögen wohl durch die Gesetze einzelner Staaten geheiligt worden sein, wie zum Beispiel das Erbrecht, die Eroberung und die Verjährung. Allein einen vernünftigen Grund haben sie nicht. Es ist eine betrübende Erscheinung, dass durchschnittlich der Arbeiter im Laufe eines ganzen Lebens, voll von Mühen, nicht dazu gelangen kann, auch nur einen kleinen Teil dieser Erde sein zu nennen, auch nur gegen die drückenden Sorgen geschützt zu sein, während eine geringe Zahl von Müßiggängern über alle Genüsse dieses Lebens verfügt.
[…]
Reich sind die Verwandten und Familien der Tyrannen, reich die Aristokraten, deren Voreltern Raubritter waren, und welche selbst vom Marke ihrer Grundholden leben, reich sind die Großwürdenträger der Kirche, welche die Menschen in der Dummheit erhalten, reich die Minister, welche die Völker drücken. Der übermäßige Reichtum der Tyrannen der Erde ist die Folge vielhundertjährigen Drucks, vielhundertjährigen Unrechts, wie die Armut der Massen die notwendige Folge jenes Reichtums ist. Die Arbeitskraft der Menschen ist nicht so groß, dass sie, ohne Mangel zu leiden, außer den eigenen Bedürfnissen auch noch die unersättliche Habsucht ihrer Despoten befriedigen könnte. Eine der ersten Aufgaben des freien Staats geht dahin, dem Arbeiter die Früchte seiner Arbeit unverkümmert zuzuwenden. Dieser Zweck lässt sich nur erreichen durch vollständige Umänderung unserer bürgerlichen Gesetze. Wie glücklich könnten die Menschen leben, wenn die Gesellschaft auf richtigen Grundsätzen beruhte! Doch das Elend der Massen wird immer größer, je frecher die Despoten der Erde alle Menschenrechte mit Füßen treten. Nur die Arbeit begründet ein ausschließliches Recht auf die Erde oder ihre Erzeugnisse. Nur das durch eigene Arbeit erworbene Eigentum bietet dem Besitzer einen reinen Genuss. An dem Eigentum, welches der Besitzer nicht durch seine Arbeit gewonnen hat, klebt im günstigsten Falle der Schweiß des Arbeiters, der es erzeugte, ohne sein Anrecht daran geltend machen zu können. Häufig klebt daran aber das Blut gemordeter Menschen und die Asche versengter Fluren und Häuser. Die Gold- und Silberbarren, welche die Wucherer in ihren Gewölben bewahren, sind die Früchte der Erpressungen, durch welche Millionen in Jammer und Elend gestürzt wurden. Die Paläste und Lustgärten der Despoten Europas bilden nur das Widerspiel ihrer Schafotte und Kerker, die Perlen und das Geschmeide ihrer Frauen und Töchter das Gegenstück zu den Ketten, welche die Männer der Freiheit tragen. Arbeit ohne Eigentum ist ebenso widersinnig, als Eigentum ohne Arbeit. Wer nicht arbeiten kann, fällt der Fürsorge der Gesellschaft anheim: das Kind, der Greis und der Kranke. Wer aber arbeitet, dem soll kein Dritter die Frucht seiner Mühen rauben.”1
1 Gustav Struve: Weltgeschichte in neun Büchern. Sechster Band. Zweiter Teil. Von 1815 bis 1848, Nachdruck der Originalausgabe von 1860, Coburg 1864, S. 882–886.
„Die Hälfte der Menschen ist weiblichen Geschlechts. Bevor die Frauen ihre richtige Stellung in der Gesellschaft gefunden haben, kann die Menschheit sich unmöglich rein und frisch entwickeln. Jedes Missverhältnis, welches das weibliche Geschlecht betrifft, berührt die Menschheit in ihren tiefsten Tiefen. Zu allen Zeiten und bei allen Völkern nahmen die Frauen diejenige Stellung ein, welche ihnen die herrschende Meinung anwies. Die Griechen und Römer waren zwar in ihren guten Zeiten Republikaner, allein ihre Anschauungsweise beruhte wesentlich auf dem Vorrechte; auf dem Vorrechte des Freien gegenüber dem Sklaven, des Vollbürgers gegenüber der rechtlosen Menge, des Mitbürgers gegenüber dem Barbaren. Das Christentum hat zuerst den Grundsatz allgemeiner Menschenliebe und Brüderlichkeit aufgestellt, welcher seit der französischen Revolution in die Formel: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit” gefasst wird. In neuester Zeit wird viel von der Solidarität der Völker gesprochen. Die Schranken, welche früher die Menschen trennten, sollen schwinden. Alle sollen für einen, einer für alle einstehen – im Kampfe der Freiheit. Wie passen diese Ideen der Neuzeit zu den Zuständen, in deren Mitte wir uns bewegen, und namentlich zu der Stellung, welche die Frau im Leben einnimmt? Weiterlesen
Die Völker sollen die alten Vorurteile, welche sie früher trennten, fallen lassen und sich gegenseitig als gleichberechtigte Glieder der großen Familie betrachten, welche die Erde bewohnt. Die Stufen sollen entfernt werden, auf welchen früher die verschiedenen Stände feindlich über und untereinander standen. Gleiche Rechte und gleiche Pflichten ist der Wahlspruch unserer Zeit. Der Deutsche reicht freudig dem Italiener, dem Ungarn, dem Franzosen und selbst jenseits des Ozeans dem Amerikaner die Hand zum Bruderbunde. Doch steht der deutsche Mann der deutschen Frau gewiss näher, als dem Amerikaner oder dem Engländer. Sollen die Menschen alle gleichberechtigt sein, selbst wenn sie durch Sprache und Abstammung, durch Geschichte und Sitten weit von uns verschieden sind, und die Frauen, welche Fleisch von unserem Fleische und Geist von unserem Geiste sind, sollten nicht gleichberechtigt uns zur Seite stehen? Ist das vernünftig, ist das folgerecht? Oder sind die Frauen etwa keine Menschen?
[…]
Mögen die Tyrannen immerhin der einen Hälfte des Menschengeschlechts, den Frauen, ihren gleichen Anteil an den Rechten und mit diesem an den Freuden, Genüssen und Entwicklungen des Lebens versagen. Versagen sie doch auch das gleiche Recht der großen Masse der Männer. Mit welchen Gründen kann aber der Mann, welcher Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auf sein Banner gesetzt hat, die Frau unfreier machen, als der unfreieste untertan irgendeines Fürsten ist? Mit welchem Rechte kann er ihr zurufen: ‘Du stehst mit mir nicht auf gleicher Stufe, tritt ab von der Bühne des Staates!’ Mit welchem Rechte kann er der Frau sagen: ‘Ich will nicht als Bruder Dir zur Seite, sondern als Gebieter über Dir stehen?’ Solange die Männer sich nicht selbst klar sind über die Bedeutung und den Umfang des großen Freiheitskampfes, der uns bevorsteht, solange sie es nicht verstehen, alle Kräfte sich zu verbinden, die sie darin fördern können, solange sie die Grundsätze der Neuzeit nicht in allen ihren Folgerungen annehmen, müssen sie darauf verzichten, ihre Gegner zu besiegen.
[…]
Manche haben sich gewundert, weshalb die Völker in den Jahren 1848 und 1849 den Sieg nicht erlangten. Die Ursache ihrer Niederlagen war tiefer als der Verrat Ludwig Napoleons, Görgeis1 und der Fürsten Deutschlands. Die Ursache war die Unklarheit der Begriffe in den wichtigsten Beziehungen des Lebens, die Unreinheit der Bestrebungen der meisten sogenannten Freiheitskämpfer und der Mangel an ausdauerndem Mute. Gar viele von jenen, welche sich Freiheitskämpfer nannten, waren selbst Tyrannen in ihrer Familie, in ihrer Gemeinde, in ihrem Geschäfte. Die Neuzeit verlangt Klarheit der Begriffe, Reinheit der Bestrebung und ausdauernden Mut. An die Stelle der niederen Leidenschaften, welche jetzt herrschen, müssen die höheren sittlichen Gefühle treten. Wir müssen vor allen Dingen selbst gerecht sein, selbst unbegründete Ansprüche aufgeben, bevor wir dem Unrechte unserer Gegner ein Ende machen können.”2
1 Gemeint ist der ungarische General und Politiker Artúr Görgei, der nach seiner Kapitulation gegenüber einer österreichisch-russischen Militärintervention 1849 von vielen als Verräter der Revolution betrachtet wurde. Die jüngere Forschung relativierte dieses Bild und führte auch in Ungarn zu einer Rehabilitierung seines Ansehens.
2 Ebd., S. 889–892.
„Ich glaube nicht, dass ein Volk der Erde seine Geschichte so wenig kennt, als das deutsche, nicht, als ob es sich mit derselben nicht beschäftigte, keineswegs, allein teils erhält es nur Kenntnis von demjenigen Stückchen Deutschlands, in welchem der Einzelne geboren ist und erzogen wird, teils wird ihm dieselbe in durchaus verfälschter Gestalt geboten. Ein Mann der Wissenschaft wird jene Mischung von Wahrheit und Lüge, welche Jesuiten katholischer und protestantischer Religion ihren Zöglingen als deutsche Geschichte vortragen, gewiss als solche nicht anerkennen; ebenso wenig als was der Lehrer irgendeines Kleinteils Deutschlands als solche vorträgt. Der habsburgische Geschichtslehrer behandelt sein Fach mit habsburgschen, der hohenzollernsche mit hohenzollernschen Vorurteilen; und in den deutschen Mittel- und Kleinstaaten wird gewöhnlich auch die Dynastie mehr berücksichtigt, als die Nation. Weiterlesen
Hierzu kommt, dass die Geschichte Deutschlands, infolge seiner Zerrissenheit wirklich schwerer ist, als diejenige irgend eines anderen Landes der Welt, denn sie zerfällt in 38 Spezialgeschichten, früher in noch zahlreichere, welche alle ihre Bedeutung haben und deren auch noch so kurze Erwähnungen meistenteils zu zeitraubend sein würde. Wenn vom deutschen Rechte, deutschen Handel, deutschen Zollwesen, deutschen Postwesen, deutschen Maß und Gewicht, von deutscher Münze und tausend anderen Dingen die Rede ist, dann kann sich der Geschichtsschreiber oder Lehrer nicht damit begnügen, ein System vorzutragen. Immer stehen drei, vier, fünf, bisweilen 38 nebeneinander. Diese Schwierigkeiten liegen in der Beschaffenheit Deutschlands. Allein weit größer sind diejenigen, welche aus der absichtlichen Verfälschung der Geschichte hervorgehen.
Die Schandtaten, deren sich die Machthaber der deutschen Nation gegenüber schuldig machten, sind so haarsträubend, dass dieselben nie gewagt haben, sie offen einzugestehen. Vielmehr wurde es damit regelmäßig so gehalten, dass sie anfangs verschwiegen wurden. Wenn sie im Laufe der Zeit dann doch ruchbar wurden, hat man sie einige Zeit lang abgeleugnet, und wenn auch das nichts mehr half, hat man sie teils verdreht, teils beschönigt. Bestenfalls werden sie dann von den privilegierten Geschichtslehrern in dieser beschönigten Form vorgetragen. So wurde es getrieben von den Friedensschlüssen zu Basel (1795), und Campo-Formio (1797) an und früher, bis zu den Beschlüssen von Karlsbad (1819) und Wien (1834). Wie es die Fürsten und Minister in Betreff der Staats-Aktionen, so machten es deren Geschichtsschreiber und Lehrer in ihren Geschichtsbüchern und Vorträgen.
Wie im Gebiete der Religion die Heuchelei mehr und mehr an die Stelle des Aberglaubens, so trat auf dem Felde der Geschichtsschreibung die absichtliche Fälschung an die Stelle der Unwissenheit. Besonders stark waren in dieser Beziehung die habsburgschen Geschichtsschreiber. Sie übten ihr Werk der Geschichtsverfälschung mit solcher Dreistigkeit, dass sehr viele freisinnige, allerdings nicht kritische Schriftsteller, zum Beispiel Rotteck1, sich von ihnen oft täuschen ließen, und deren absichtliche Lügen, ohne es zu wollen, weiterverbreiteten. In meiner Weltgeschichte habe ich viele dieser Maschinationen gebrandmarkt.
Das sind alles die Folgen der auf Deutschland lastenden Unfreiheit. Im gegenwärtigen Augenblicke wissen wir alle, dass Österreicher und Preußen in Schleswig2 eingerückt sind. Unter welchen Bedingungen dies geschieht, weiß das deutsche Volk nicht. Was die Kabinette von Wien und Berlin miteinander verabredet haben, werden wir ohne Zweifel erfahren, wenn es zu spät ist, den dadurch begründeten Übeln abzuhelfen. Dann wird es der deutschen Nation als vollendete Tatsache geboten werden und dann werden sofort die Speichellecker der Gewalt die vollendete Tatsache anerkennen, und jeden, der neben dem Sinn für tatsächliche Verhältnisse, sich auch Gefühl für Recht, Freiheit und Nationalität erhalten hat, als Fanatiker, als unpraktisch, oder gar als böswillig verschreien.
Ich kann mir nicht denken, dass die deutsche Nation in denjenigen Zustand der Jämmerlichkeit hätte versinken können, in welchem sie sich jetzt befindet, wenn sie von der Geschichte ihrer Vergangenheit nur einigermaßen unterrichtet wäre. Allein sie kennt nicht einmal ihre Geschichte bis zum Jahre 1848 rückwärts. Diese ist von den Hof-Geschichtsschreibern bereits dermaßen verpfuscht worden, dass sehr gründliche Studien erfordert werden, um dieselbe von den zahlreich eingeflochtenen tatsächlichen Lügen zu reinigen, ganz abgesehen von den der Sache der Freiheit ungünstigen Urteilen, welche immer Voraussetzung jedes Werkes waren, welches auf Gunst von oben berechnet war. Studium der Geschichte, je umfassender, je besser, allein wenigstens zurück bis zum Jahre 1789 oder doch 1848 ist die unabweisbare Voraussetzung eines richtigen Urteils über die politischen Zustände der Gegenwart und folgeweise einer gedeihlichen Wirksamkeit auf diesem Felde.”3
1 Karl von Rotteck.
2 1864 rückten im deutsch-dänischen Krieg preußische und österreichische Truppen in Dänemark ein, um eine engere Eingliederung Schleswigs in den dänischen Staat zu verhindern.
3 Gustav Struve: Zwanglose Hefte zur Vermittelung der Beziehungen zwischen Amerika und Deutschland. Zweites Heft, Coburg 1864, S. 116ff.
Briefwechsel zwischen einem ehemaligen und einem jetzigen Diplomaten, Mannheim 1845.
Actenstücke der Censur des Großherzoglich Badischen Regierungs-Rathes von Uria-Sarachaga. Eine Recursschrift an das Publikum, Mannheim 1845.
Politische Briefe, Mannheim 1846.
Politisches Taschenbuch für das deutsche Volk, Frankfurt am Main 1846.
Briefe über Kirche und Staat, Mannheim 1846.
Actenstücke der Mannheimer Censur und Polizei. Zweite Recursschrift an das Publikum, Mannheim 1846.
Grundzüge der Staatswissenschaft. Vier Bände, Mannheim 1847 und 1848.
Die Deutsche Diplomatie wider das deutsche Volk. Eine Sammlung wichtiger Aktenstücke. Zum Verständniß der Vergangenheit und zur Warnung für die Zukunft, Wiesbaden 1848.
Die Grundrechte des deutschen Volkes, Birsfelden 1848.
Geschichte der drei Volkserhebungen in Baden, Bern 1849.
Die Union vor dem Richterstuhle des gesunden Menschenverstandes, New York 1855.
Geschichte der Neu-Zeit. Zwei Bände, New York 1856 und 1857.
Weltgeschichte. Zehn Bände, New York 1853 bis 1864.
Diesseits und Jenseits des Oceans. Zwanglose Hefte zur Vermittelung der Beziehungen zwischen Amerika und Deutschland. Vier Hefte, Coburg 1863 und 1864.
Krieg. Zwei Hefte, Frankfurt am Main 1866.
Das Seelenleben, oder die Naturgeschichte des Menschen, Berlin 1869.
Gustav und Amalie Struve: Freiheit und Menschlichkeit. Ausgewählte Programmschriften. Zusammengestellt und eingeführt von Peter Hank (Bibliothek europäischer Freiheitsbewegungen für die Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der Deutschen Geschichte im Bundesarchiv, Bd. 2), Eggingen 2003.
Hank, Peter: Gustav Struve. Der vergessene Visionär, Freiburg 1998.
Rehm, Clemens/Hofmann, Annette R. (Hrsg.): Gustav Struve. Turner, Demokrat, Emigrant, Ubstadt-Weiher 2020.
Reimann, Matthias: Der Hochverratsprozess gegen Gustav Struve und Karl Blind. Der erste Schwurgerichtsfall in Baden, Sigmaringen 1985.
Reiß, Ansgar: Radikalismus und Exil. Gustav Struve und die Demokratie in Deutschland und Amerika, Stuttgart 2004.
Peiser, Jürgen: Gustav Struve als politischer Schriftsteller und Revolutionär, Frankfurt am Main 1973.
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