MATHILDE ANNEKE
Abb: Wisconsin Historical Society
Biedermeier-Dichterin, revolutionäre Journalistin, Freischärlerin, Frauenrechtlerin – das Leben der Mathilde Franziska Anneke wäre eines Romans mehr als würdig. Ihr Kampf für politische Freiheit, für Demokratie und soziale Gerechtigkeit, ihr Einsatz für die Frauenrechte und gegen jede Form der Sklaverei – erst in Deutschland, dann im Amerika – machten sie zu einer der einflussreichsten Frauen des 19. Jahrhunderts. Ihr Leben wie auch die Texte der von den Konservativen als „Kommunistenmutter“ und „Flintenweib“ Geschmähten spiegeln ihr Lebensmotto wider: „Wer will, der kann!“
Ihr Engagement richtete sich dabei nie schlicht gegen die Männer, sondern gegen gesellschaftliche Verhältnisse und Konventionen, die Unfreiheit, Ungleichheit und Ungerechtigkeit zulassen und stets aufs Neue reproduzieren. Dafür insbesondere bei den Frauen ein handlungs-motivierendes Bewusstsein zu wecken, war eines ihrer Hauptanliegen: „Auf denn, ihr Schwestern!“
Am 3. April als ältestes von insgesamt zwölf Kindern des Ehepaares Karl und Elisabeth Giesler in der Nähe von Blankenstein an der Ruhr geboren, hat Mathilde Franziska eine unbeschwerte Kindheit und Jugend. Der Vater, Anteilseigener an Bergwerken, hat einen Gutshof, Mathilde lernt früh reiten und genießt eine sorgfältige Erziehung durch Hauslehrer.
Durch Fehlspekulationen des Vaters gerät die Familie in finanzielle Schwierigkeit. Schulden drücken. Da trifft es sich gut, dass ein wohlhabender Mülheimer Weinhändler um die Hand der 17-jährigen Mathilde anhält.
Heirat mit dem französisch-stämmigen Alfred Philipp Ferdinand von Tabouillot. Aber die Ehe ist nicht glücklich. Der 10 Jahre ältere Mann erweist sich als herrisch und gewalttätig. Schon ein Jahr später, 1837, reicht Mathilde die Scheidung ein.
Nach einem mehrjährigen Prozess, in dem sich Mathilde immer wieder an den Pranger gestellt sieht – dass die Scheidungs-Initiative von einer Frau ausgeht, ist ungewöhnlich – wird die Ehe erst 1843 geschieden. Auf sich allein gestellt, zieht Mathilde nach Münster und versucht sich als Autorin durchzuschlagen, schreibt religiöse Gedichte, Gebetbücher und biedermeierliche Frauenalmanache.
In Münster kommt Mathilde in Kontakt mit einem Kreis junger „Freisinniger“, die sich als „Demokratischer Verein“ regelmäßig treffen. Hier lernt sie Fritz Anneke kennen – und lieben –, einen ehemaligen, wegen seiner liberalen Gesinnung entlassenen preußischen Offizier. Die Beiden heiraten am 3. Juni 1847 und siedeln nach Köln über.
Wie in Münster werden die Annekes auch in Köln schnell zum Mittelpunkt einer Gruppe von Gleichgesinnten. Aus diesem Kreis heraus entstehen ab April 1848 sowohl der „Kölner Arbeiterverein“ (Präsident Andreas Gottschalk, erster Sekretär Fritz Anneke) wie auch die „Neue Kölnische Zeitung“, die maßgeblich von Mathilde gegründet und geleitet wird – neben der „Neuen Rheinischen Zeitung“ von Karl Marx die zweite bedeutende oppositionelle Zeitung in Köln.
Im Anschluss an eine Demonstration wird Fritz Anneke, gemeinsam mit anderen Führern des Arbeitervereins verhaftet und für mehrere Monate (bis Dezember) inhaftiert. Dennoch kann, unter Mathildes Leitung, die erste Nummer der "Neuen Kölnischen Zeitung" am 10. September 1848 erscheinen.
Als die „Neue Rheinische Zeitung“ nach der Niederschlagung des ersten badischen Aufstands verboten und Marx aus Köln ausgewiesen wird, empfiehlt er seinen Lesern in der letzten Ausgabe der NRZ vom 19. Mai 1849 in Zukunft Annekes NKZ zu lesen.
Aber die Ereignisse überschlagen sich. Als in Baden ein erneuter Aufstand ausbricht, schließt sich Fritz Anneke den Aufständischen an. Mathilde begleitet ihn und wird, als ausgezeichnete Reiterin, neben Karl Schurz, Adjutant ihres Mannes. Mit dem Fall der Festung Rastatt, in die sich die Aufständischen vor den fürstlichen Truppen zurückgezogen hatten, endet die deutsche Revolution. Den Annekes gelingt in letzter Minute die Flucht. Über die Schweiz emigrieren sie nach Amerika.
Die Annekes lassen sich in Milwaukee nieder und verdienen ihren Lebensunterhalt mit Vorträgen über deutsche Politik und Artikeln für deutsche Zeitungen.
Am 1. April 1852 erscheint die erste Ausgabe der von Mathilde gegründeten deutschsprachigen „Frauen-Zeitung“. Sie knüpft Kontakte zu amerikanischen Frauenrechtlerinnen und engagiert sich in der schärfer werdenden Sklaverei-Debatte. Sie hält von nun an regelmäßig Reden auf amerikanischen Frauenkongressen.
Nachdem der Kampf gegen die Sklaverei siegreich beendet ist, wendet sich Mathilde verstärkt der Frauenfrage zu, vor allem dem Wahlrecht, das den Frauen auch in den USA noch bis 1876 vorenthalten bleibt. Sie wird Vizepräsidentin der „National Womens Suffrage Union“ und gründet eine fortschrittliche Schule für Mädchen, die „Milwaukee German-English Academy“, die bald in bestem Ruf steht.
Am 25. November 1884 stirbt Mathilde Anneke – als inzwischen USA-weit geehrte Persönlichkeit. Fritz Anneke war bereits 12 Jahre zuvor, 54-jährig, durch einen Unfall ums Leben gekommen.
Daniela Dahn
Es ist gut, an Revolutionen zu erinnern, selbst wenn sie nicht gut ausgingen. Was wollten sie, warum sind sie gescheitert, was haben sie dennoch bewirkt – gleich oder später. Welche Forderungen sind bis heute nur halb oder gar nicht erfüllt. Wer waren die Revolutionäre, und wer könnte die offenen Rechnungen begleichen.
1848 – Frauen haben in ganz Europa keine bürgerlichen und politischen Rechte. Umso erstaunlicher – oder auch umso folgerichtiger –, wie viele von ihnen sich an den gewaltsamen Versuchen zum Umsturz der Unordnung beteiligen. Und dabei von den Männern nicht nur geduldet, sondern akzeptiert, ja erwünscht waren. Man sieht sie auf Abbildungen von Berliner Barrikaden Bleikugeln gießen, auf Feldzügen hoch zu Ross im Schlachtgetümmel oder man liest von ihnen verfasste Revolutionspamphlete. Eine dieser couragierten Frauen war Mathilde Anneke. Weiterlesen
Keine Arbeiterin aus prekären Verhältnissen, auch keine Kleinbürgerin, sondern wohlhabende Gutshaus-Tochter im Ruhrgebiet – vor dessen Industrialisierung, versteht sich. Die Atmosphäre dort streng katholisch und bieder, und so auch ihre ersten dichterischen Versuche. Ihr Dissidententum ist nicht angeboren, es entfaltet sich durch eigene bittere Erfahrungen (siehe die „Biografische Notiz“) und durch einen mitfühlenden Blick auf ihre Umgebung. Ihre erste und vielleicht schwerste Emanzipation ist die von den kujonierenden Kirchenmännern. Damit ist sie nicht allein.
1847 ergreift sie öffentlich Partei für das Geschick ihrer Mitstreiterin Louise Aston, das dem ihren so unverkennbar ähnlich ist. Während sie deren Schicksal anklagt, hört der Leser ihre eigene Klage. Mathilde bringt unter Schmerzen Louises Bekenntnis hervor, und man versteht, es ist ihr eigenes. Der preußische Innenminister hat Frau Aston wegen „frivoler“ Äußerungen der Hauptstadt verwiesen. Als diese dagegen protestiert und die Gründe wissen möchte, fragt S. Excellenz, weshalb sie ihrem Glaubensbekenntnis voranstelle, „dass sie nicht an Gott glaube“. Weil ich nicht heuchle, bekommt er zu hören. Sie habe Gott überwunden, die Zweifel an dessen persönliches Dasein erwachen täglich.
Und Mathilde übernimmt: Nur die Wahrheit befreit uns von dem trügerischen Wahn, dass wir dort oben belohnt würden für unser Dienen, Dulden und Leiden. Vielmehr würden die Gesetzestafeln von unseren Unterdrückern stammen, die sie zu ihrem Nutzen erlassen hätten. Und in ihrem Artikel „Kirche und Schule“ legt sie 1848 kräftig nach, eigene Verfolgung riskierend. Während die ganze Welt klüger werde, kämen die Mönche, diese „dümmsten Teufel“ mit ihrer Gelehrsamkeit nicht weiter, sie seien bloß müßiges Gesindel, das auf anderer Leute Kosten lebt. Kinder würden im Religionsunterricht viel zu früh mit Dingen behelligt, von denen sie nichts verstehen könnten, also „abgerichtet wie Hunde, dass sie geradezu dumm und zu Lügnern und Heuchlern gemacht werden“. Es sei von Übel, und das kann man heute nicht oft genug wiederholen, dass der unglückselige Zwiespalt und Hass zwischen den Religionen, wenn er in früher Jugend eingebläut wird, „niemals ein Ende nimmt“. Sie verlangt die Trennung von Kirche und Schule. Die immer wieder geforderte Trennung von Kirche und Staat ist in der Bundesrepublik bis heute nicht vollzogen, die von der Schule nur bedingt.
Mit der Emanzipation von den Kirchenmännern folgt für Mathilde Anneke zwangsläufig die Emanzipation von allen Männern. In ihrem grundlegenden Text „Das Weib in Konflikt mit den sozialen Verhältnissen“ hat sie am Exempel von Louise Aston ein Thema gefunden, dem sie sich ganz widmen wird. Das Weib möge nicht länger die schweigsame Dulderin sein sollte, die demütige Magd, „die ihrem Herrn die Füße wäscht“. Den Unglücklichen ihres Geschlechts sei stets „zu denken verboten“ worden.
Das hat sich Mathilde wahrlich nicht verbieten lassen. In ihrem im November 1848 erschienenen Text mit dem für sie offenbar alles sagenden Titel: „Rot!“, offenbart ihr Denken eine weitere Emanzipation. Rot ist für sie nicht die Couleur der Guillotine. Es ist nicht nur die Farbe, die für die in der Märzrevolution europaweit geforderte Abschaffung der Monarchie steht, sondern auch schon für das Ende der „tyrannischen Herrschaft des Kapitals“. Weil dieses sich das Recht anmaßt, „die Arbeit für sich auszubeuten“. Da scheint eine im Februar erschienene Schrift durch, die weltweit Aufsehen erregt hatte: Das Kommunistische Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels. Die rote Republik proklamiert das „Recht auf Arbeit“, schreibt Mathilde. Und erinnert damit nichtsahnend daran, warum unter anderem die Bundesrepublik nie eine „rote Republik“ sein wollte. Sie aber fordert eine Gesellschaft der Gleichen, mit „Wohlstand, Bildung und Freiheit für alle!“
Inzwischen kämpft Mathilde also nicht nur für Frauen, sondern für alle. Gleichgesinnte Männer sind für sie durchaus Verbündete. Allen voran natürlich ihr zweiter Ehemann Fritz Anneke. 1846 wegen revolutionärer Tätigkeit als Offizier der preußischen Armee in Unehren entlassen, war er im darauffolgenden Jahr Mitbegründer der Kölner Arbeitervereinigung und trat dem „Bund der Kommunisten“ bei. Beide initiieren nun die Neue Kölner Zeitung und setzen sich für unbegrenzte Pressefreiheit ein. Sie begegnen dabei in Köln zwangsläufig auch Marx und Engels, die dort die Neue Rheinische Zeitung leiten und Mathilde besonders geschätzt haben sollen. Bei den Annekes kann die Kenntnis der Schriften der beiden revolutionären Autoren mit Sicherheit vorausgesetzt werden.
Im Juni 1848 wird Fritz Anneke verhaftet und verpasst so einige Monate der Revolution im Knast. Die Anklage lautet: „Komplott zum Umsturz der bestehenden Regierung, zur Erregung eines Bürgerkrieges, zur Verbreitung von Mord und Plünderung über die Stadt Köln.“ Der Andrang des Publikums bei diesem „politischen Tendenz-Prozess“ ist groß, der Vorwurf vernichtend. Gleichzeitig lösen all die zur Sprache gekommenen Denunziationen durch Polizeispitzel allgemeine Empörung aus. Mathilde hat den Ablauf des Prozesses minutiös protokolliert und sparsam kommentiert. Einen Tag vor Weihnachten sprechen die womöglich sympathisierenden Geschworenen Fritz frei.
Heute würde ein Paar derartiger Gesinnung vielleicht für die Rote Hilfe spenden und sich mit systemkritischen Personen unterhalten. Damit wären sie sicher ein Beobachtungsfall für den Verfassungsschutz. Der sie als extremistisch einstufen würde – zumindest in Bayern. Denn sie würden die Verengung des öffentlichen Debattenraums als Gefahr für die Demokratie kritisch kommentieren und sachlich mit Beispielen belegen. Wären sie als Wissenschaftler verbeamtet, bekämen sie vermutlich ein Disziplinarverfahren wegen Kontaktschuld, das mit Entlassung und Aberkennung aller Rentenansprüche drohen würde. Zur Einschüchterung ihrer Professoren-Kollegen und auch der Studenten. (Das ist leider nicht erfunden.)
Doch zurück zu Mathilde, der nicht viel Zeit bleibt, sich über die Freilassung ihres Mannes zu freuen. Der badisch-pfälzische Militäraufstand ist in Vorbereitung, und Fritz wird zum Oberbefehlshaber der 1200 Mann starken Artillerie berufen. Mathilde beschließt, ihm zu folgen. Nicht mit der Waffe in der Hand, aber doch als Kurier – hoch zu Pferde. Ihr Bericht von diesem Feldzug beschreibt anschaulich und detailliert den kämpferischen Enthusiasmus, die erfolgreichen Momente wie die Mängel, Grausamkeiten und Intrigen. Sie will ausdrücklich keine vollständige Kriegsgeschichte dieser letztlich „unglücklichen Volkserhebung“ liefern, sondern nur erzählen, was sie gesehen hat.
Sie fürchtet sich, geschmäht zu werden, als Weib dem Kriegsruf gefolgt zu sein. Darf das ein Weib? Doch nicht der Krieg habe sie gerufen, sondern die Liebe zu dem Mann ihres Herzens. Aber, gesteht sie, auch der „im Kampf des Lebens erzeugte Hass gegen die Tyrannen und Unterdrücker der heiligen Menschenrechte“. Darf das ein Weib, sich auf Hass als ein humanes Gefühl berufen? Später wird Eleanor, die jüngste Marx-Tochter jenen, welche sich dem Studium der menschlichen Natur widmen, über ihren Vater sagen: „Sie werden verstehen, dass er so bitter hassen konnte, nur weil er einer so innigen Liebe fähig war.“ Heute wird Hass als das eigentliche Übel ausnahmslos verdammt, die ihm mitunter zugrunde liegende Tyrannei aber gern verschwiegen.
So ein Krieg ohne Funker, ohne Handy, hat ja aus heutiger Sicht auch was von einem Drôle de guerre. „Sie können mir vielleicht sagen“, fragt die Kurierin Mathilde auf ihrem Pferd einige Eisenbahner, „wo sich das Artilleriekommando aufhält?“ Einer antwortet „in Neustadt“, ein anderer „in Frankenstein“ und ein dritter „bei den Kanonen“. „Wo sind die Kanonen?“ Das weiß keiner so genau. Oft wird wertvolle Zeit vertrödelt. Eines Tages ziehen am Gebirge hin lange Soldaten-Kolonnen – „Schwarz von Preußen“ heißt es in Erwartung des Feindes. Fritz Anneke zögert, in die Reihen zu feuern – wenn es die eigenen sind? Der Unterschied in den Uniformen beider Seiten war nicht groß. Hoho, höhnt es, solche Truppenmacht die unsrige? Kein Fernrohr da, die Sache aufzuklären. Schließlich bringen seine Adjutanten die fliegende Botschaft, es sei das ersehnte Blenkersche Corps, die Verbündeten, mit Gewehren und Sensen bewaffnet.
Aber es bleibt hart. Was für Umstände freiwillig in Kauf genommen wurden, um die Welt zu verbessern. Oft kommt die Truppe in später Nacht irgendwo an, die Gasthöfe schon überfüllt, sie leiden Hunger und Durst. Das Frühstück besteht aus einem Trunk klaren Wassers am Brunnen. Mathilde wird Zeugin brutaler Misshandlungen vermeintlicher Verräter, wird selbst Opfer von Zeitungsenten, die sie lächerlich machen, verflucht den mit dem Hof und der Bourgeoisie stets liebäugelnden Brentano, der an der Spitze der provisorischen Regierung in Baden nichts unternimmt, ihnen die nötigsten Waffen und Munition zukommen zu lassen, so dass auch sie zu Sensen greifen müssen.
An der Rheinbrücke zu Knielingen treffen sie auf das verbündete Willichsche Corps, dessen Adjutant Friedrich Engels ist. Dieser setzt sich erfreut neben Mathilde Anneke, aber berichtet Unerfreuliches vom gestrigen Gefecht im Annweiler Tal mit schweren Verlusten. Sie schwärmt von Engels als „geistreichen Schriftsteller, scharfen Denker und schonungslosen Kritiker“, aber auch als mutigen Kämpfer, der z.B. in Ermangelung eines Pferdes tagelang seine Adjutantendienste zu Fuß erledigte.
Mathilde beschreibt Augenblicke des Schauderns, das Verhalten von Memmen, ausreißende Offiziere, den Wirrwarr an allen Ecken, der durch das konterrevolutionäre Verhalten Brentanos ausbricht. „Es war zu spät!“ Die entscheidende Schlacht bei Rastatt geht am 30. Juni verloren. Die Annekes fliehen zu Pferde über Strasburg in die Schweiz. Und bald, wie Zehntausende 48er, in die USA.
Dort gibt es bei der Einreise kein Formular, wie es mir Anfang der 1990er auf dem Flug nach Boston die Stewardess überreichte: Haben Sie eine geistige Störung? Ja oder Nein? Bin ich je verhaftet worden wegen eines Vergehens, verbunden mit moralischer Verworfenheit? Suche ich Eintritt, um unmoralische Aktivitäten zu begehen? War oder bin ich mit Völkermord beschäftigt? Die US-Behörden interessierte es 1851 wenig, dass Fritz Anneke zu Hause in Abwesenheit wegen „Beteiligung am Aufstand“ zum Tode verurteilt worden war.
Mathilde wird sehr schnell zu einer führenden revolutionären Kämpferin nicht nur gegen die Sklaverei und für Frauenrechte. Sie hat zu Hause ihre Lektion gelernt. Auf einem Vortrag 1852 in Louisville verblüfft sie vermutlich ihre Zuhörer: Nur durch „wahre Demokratie“ könne sich die Menschheit aus ihrem verderbten Zustand regenerieren. Und die unverbrauchte Kraft dafür fände sich einzig „im Bunde des befreiten Proletariats mit dem befreiten Weibe“. Ein emanzipatorisches Bündnis zwischen Prekariern und Feministen – das wäre auch heute noch revolutionär.
Im selben Jahr zieht Friedrich Engels in London mit seinen Artikeln zu „Revolution und Konterrevolution in Deutschland“ eine Bilanz des Märzaufstandes. Jener Revolution, die für die veralteten Gesellschaftssysteme Europas eine geschichtliche Notwendigkeit geworden sei. Die Einberufung der Frankfurter Nationalversammlung durch die engagierten Volksmassen war das sichtbare Zeichen, dass in Deutschland tatsächlich eine Revolution stattgefunden hatte. Die offenen Feindseligkeiten der feudalen Landesregierungen hatten seiner Meinung nach eine Entscheidung durch Waffengewalt unvermeidlich gemacht. In Dresden verjagte das Volk den König. In Rheinpreußen und Westfalen bewaffnete sich die Landwehr zum Schutz der Reichsverfassung. In Württemberg zwang das Volk den König, die Reichsverfassung anzuerkennen, und in Baden zwang die Armee im Verein mit den Landarbeitern und denen der Städte den Großherzog zur Flucht. Es galt vor allem Preußen zu bezwingen, und die dortigen revolutionären Sympathisanten berechtigten zu begründeten Hoffnungen.
Doch die Hoffnungen trogen. Schließlich standen den geschulten Regierungssoldaten nur ein Viertel so viele aus ungeübten Aufgeboten gegenüber. Engels beklagt, dass es den Aufständigen vor allem an Kühnheit gefehlt habe. Die sogenannte demokratische Partei der Kleinbürger, also der führenden Klasse des Maiaufstandes, habe oft versprochen, sich für die Freiheit zu opfern, war aber in der Stunde der Gefahr nirgends zu finden. Ihr wäre niemals wohler gewesen als nach einer Niederlage, wenn die Sache wenigstens erledigt war. Die Vertreter der deutschen Spießbürgergesellschaft seien zu nichts anderem fähig, als jede Bewegung zugrunde zu richten, die sich ihren Händen anvertraut. Aber auch die Vertreter der Nationalversammlung hätten es versäumt, alle Fürsten, die es wagen sollten, sich dem souveränen, von seinen Beauftragten vertretenen Volk zu widersetzen, für vogelfrei zu erklären. Sie parlierten und protestierten, hatten aber nicht den Mut, zu handeln, und verloren so ihr Ansehen. Als die Dinge auch an der Front eine ernste Wendung nahmen, wären die Studenten die ersten gewesen, die fahnenflüchtig wurden. Der Mangel an Entschlossenheit und Taktik habe den Aufstand zum Scheitern verurteilt. „Die erste deutsche Revolution war zu Ende“
Über vierzig Jahre später, 1895, im Jahre seines Todes, bekennt Friedrich Engels in einer seiner letzten Schriften[1]: „Die Geschichte hat uns Unrecht gegeben.“ Es sei eine Illusion gewesen anzunehmen, es würde eine lange revolutionäre Periode bevorstehen mit einem siegreichen Proletariat. Die soziale Umgestaltung sei nicht „durch einfache Überrumpelung“ zu erobern, der Stand der ökonomischen Entwicklung für die Beseitigung der alten Ordnung bei weitem noch nicht reif gewesen. Die industrielle Revolution hätte erst Klarheit schaffen müssen. Sie habe die Bourgeoisie und das Proletariat erzeugt, dass jetzt durch das allgemeine Wahlrecht seine Kräfte messe.
„Und so geschah es, dass Bourgeoisie und Regierung dahin kamen, sich weit mehr zu fürchten vor der gesetzlichen als vor der ungesetzlichen Aktion der Arbeiterpartei, vor den Erfolgen der Wahl als vor denen der Rebellion.“ Zumal die Rebellion alten Stils, die Straßenkämpfe, überholt seien. Die neuen Perkussionsgranaten und Dynamitpatronen würden die besten Barrikaden zertrümmern. Und die seit 1848 in den großen Städten angelegten, langen, breiten Straßen seien wie gemacht für die Wirkung der neuen Geschütze. Die Bedingungen des Klassenkampfes hätten sich verändert.
„Die Ironie der Weltgeschichte stellt alles auf den Kopf. Wir, die ´Revolutionäre´, die ´Umstürzler´, wir gedeihen weit besser bei den gesetzlichen Mitteln als bei den ungesetzlichen und dem Umsturz.“ Es bedürfe nun einer ausdauernden Arbeit durch Propaganda und parlamentarischer Tätigkeit, um das „Recht auf Revolution“ durchzusetzen.
Eine Weile sah es so aus, als hätte Engels mit seiner Prognose diesmal Recht. Die Monarchie wurde gestürzt, ein Großteil der Freiheitsforderungen der 48er ließ sich, zumindest formal, auf parlamentarischem Wege durchsetzen. Doch die Gegenseite war auch nicht faul, um mit ihrer Propaganda und Lobbytätigkeit das „Recht auf Revolution“ zu beschränken. Hauptaufgabe des Staates im Kapitalismus war immer der Erhalt der Eigentumsordnung. Die subversivsten Forderungen der 48er sind daher unerfüllt geblieben: Ausgleich des Missverhältnisses zwischen Kapital und Arbeit, eine gerechte Besteuerung, Gesetzgebung und Verwaltung durch das Volk, statt Vorherrschaft der Beamten Selbstregierung des Volkes, Friede mit allen Völkern.
Das Hauptversprechen der Demokratie als Volksherrschaft, die allen Bürgern Teilhabe verspricht, wird zunehmend und besorgniserregend als unerfüllt empfunden. Und dennoch muss man sich in den Parlamenten nicht mehr vor linken Revolutionären fürchten, sondern vor weiterem Rechtsruck. „Die Ironie der Weltgeschichte“ stellt immer noch alles auf den Kopf. Mathilde Annekes Stimme verdient anhaltend Gehör: Auf denn, ihr Schwestern und Brüder!
1 Friedrich Engels: Einleitung zu Karl Marx´ „Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850“, MEW Bd. 22.
Werft den hohlen Flitter des Putzes und der Eitelkeit ab und schafft, dass Euch der Mann um dessentwillen liebt, was Ihr seid. Protestiert im Namen der Gerechtigkeit was gegen das Almosen der glatten Konvenienz, mit welchem euch der Mann um eure geistigen und gesellschaftlichen Rechte betrügen will. Verlangt endlich, dass man Euch nicht mutwillig von Eurer Pflicht abscheide, indem man euch tausendmal an der Arbeit verhindert, für die er nicht minder als der Mann geschaffen seid! Und hier ist es am Platze, der wahren Demokratie eine ernste Wahrheit ins Gedächtnis zu rufen. Männer des Fortschritts und der Revolution! Jahrhundertelang habt Ihr Euren treusten Verbündeten verkannt. Nur durch eine neue, unverbrauchte Kraft kann sich die Menschheit aus ihrem verderbten Zustand regenerieren. Diese Kraft, Ihr findet sie einzig im Bunde des befreiten Proletariats mit dem befreiten Weibe. Den Arbeiter habt Ihr endlich erkannt. Jubelnd habt Ihr ihn auf den Kampfplätzen der Menschheit begrüßt – aber das Weib, das freie Weib, die Mutter der Gesellschaft, treibt ihr noch mit Spott in das Feindeslager zurück, wenn es sich mit klarbewusster Begeisterung als Bundesgenossin darbietet. Wieder ein treues Herz, wieder ein hoher Geist tritt zu Euch her. Wollt Ihr abermals den Schmerzen des gefesselten Weibes euch verstocken? Sollen Euch jeden französischen Proletarier beschämen, die auf ihren traurigen Mansarden zur Hymne der Versöhnung entflammten und das Weib zum Kampf riefen, wenn es nicht von selber kam. Weiterlesen
Männer der Zukunft, reicht dieser Frau eure Bruderhand, unterstützt ihre Mission, wirkt in Euren Versammlungen für die Rechte der Frauen, erkennt sie als Eure natürlichste und stärkste Bundesgenossin an! Ihr Frauen, tretet zusammen zu Vereinen, opponiert gegen Eure Knechtschaft, macht Eure Schwestern frei, indem Ihr sie aufklärt über ihre Pflichten und ihre Rechte. Verbreitet die „Frauenzeitung“ und schafft Euch ein Organ nach dem anderen, das Eure Forderungen kühn und würdig vertritt.
(Vortrag, gehalten in Louisville/Kentucky im Oktober 1852, zitiert nach einem Bericht von Amalie Struve in der „Freien Presse“ in Louisville vom 23. Oktober 1852; hier zitiert nach: Manfred Gebhardt, Mathilde Franziska Anneke, Verlag Neues Leben, Berlin 1988, S. 166f.)
Wir hatten des andern morgens zeitig unseren großen Marsch auf den Rhein fortgesetzt. Das Heer schien mir mit jedem weiteren Vorrücken anzuwachsen. Als wir uns der Rheinbrücke zu Knielingen näherten, stieß das Willichsche Corps wieder zu uns. Willich¹ selbst begrüßte uns unmittelbar am Ufer, bevor wir über den Strom gingen. Heute sah er so bekümmert aus und so still – auch ritt er nicht, wie am Tage vorher, sein schönes weißes Ross. Warum die Veränderung an ihm? hätte ich fragen mögen, doch man wird auf Kriegszügen so sehr daran gewöhnt, sich um dieses Wörtchen gar nicht mehr zu kümmern. Die ungenügenden Antworten, die meinen Fragen bisweilen zuteilgeworden waren, klangen mir fast so ungenügend wie in der Mondschein Poesie jenes: „Das warum wird offenbar, wenn die Toten auferstehen.“ Weiterlesen
Vor der Brücke wurde von dem ganzen Heer ein großer Halt gemacht, mit seinem Übergang nahm es ja Abschied vom pfälzischen Boden. Jenseits trat es auf badisches Gebiet. Ein großer Teil reguläres badisches Militär stand dort schon wie zum Empfang der Pfälzer Division bereit; es präsentierte sich in glänzenden Uniformen, die einen seltenen Kontrast gegen unsere blauen Blousen bildeten. Fast weiß ich nicht zu sagen, ob ich diesen nicht den Vorzug hätte geben mögen; lag doch in der dunklen Tracht der Charakter unseres Kampfes angedeutet, während mir in denjenigen der großherzoglichen, buntscheckigen Livreejacken das Gemisch von Meinungen dieser Kämpfer bezeichnet wurde. So zum Beispiel stach wie eine hohnlächelnde Ironie auf die badische Bewegung das gelbe messingne auf den Helmen und Schabraken, das den Namen des entflohenen Großherzogs Leopold bedeutete, mir grell in die Augen. Freilich mochten viele in dem Heer sein, die mit dem kühnen Artillerie-Wachtmeister Hofer die tadelnden Bemerkungen, dass man diese Embleme noch trüge, erwidern konnten, „die äußeren Zeichen täten es eben nicht“, allein, ich glaube, dass dem Dinge eine nicht wegzuleugnende Absicht des mit dem Hofe und der Bourgeoisie stets liebäugelnden Brentanos2 zugrunde lag. (…)
Während das badische Rheinufer unter Annekes Befehl von mehreren Kanonen besetzt, die Brücke abgefahren wurde, um den Preußen hier den Übergang zu wehren, nahm ich Veranlassung, die verschiedenen Stimmungen in den verschiedenen Truppen des pfälzischen und badischen Heeres zu beobachten. Ich ritt, während die Anordnungen zur Verteidigung getroffen wurden, längst dem Ufer und wurde von einer Gruppe badischer Soldaten mit ungeziemenden Redensarten beleidigt. Absichtlich blieb ich eine Weile in der Nähe dieser jungen Leute, unbesorgt, mich einem frechen Gespött auszusetzen. Da trat ein junger, wohlgebildeter Mann, in der Uniform eines Badensers, an mich heran und sagte mit vieler Bescheidenheit, er wünsche meinen Namen zu wissen. Ich nannte mich ihm. Wir seien ihm nicht unbekannt, behauptete er, und er freue sich, eine wackere Frau mit in den Kämpferreihen zu finden. Das Lob dieses schlichten Jungen war mir Genugtuung für jene Umbilden, und ich nahm in diesem Augenblick Veranlassung, die aufmerksam und still gewordene Gruppe der übermütigen Burschen ein wenig zu strafen.
„Sie freuen sich“, antwortete ich mit sehr nachdrücklicher Stimme, zu jenen hingewandt, „und doch scheinen diese jungen Streiter nicht zu bedenken, wie groß, wie ernst und heilig die Sache ist, für die sie eben in den Kampf gehen wollen. Wussten sie‘s noch nicht, so konnten sie‘s durchaus begreifen lernen, dass eben Frauen sich dem Streit beigesellen. Blicken Sie hinüber in die Reihen ihrer Feinde, ob dort ein Weib ihrem Manne gefolgt ist, in der Absicht, wie ich dem meinigen folge. Ich glaube, Sie werden keine finden; keine Frau wird an einem unheiligen und schlechten Werk teilnehmen und ihr Leben dafür einsetzen. Das hätten die jungen Leute bedenken sollen, ehe sie über mich spotteten.“ Kaum hatte ich die letzten Worte gesprochen, als sie alle, einer nach dem anderen, nähertraten, mir die Hände reichten und baten: Ich möge ihnen ihre Unart nicht übelnehmen. Das hatte ich ja auch nicht getan, ich begrüßte sie daher freundlich als Kampfgenossen in unserem heiligen Streit und sagte ihnen, dass ich zwar keine Waffen führe und wohl auch keinen Preußen töten könnte, dass ich mich aber doch nützlich machen würde, wo es der Augenblick erheische.
Als ich längst der Kolonne ritt, ließen sie mich hochleben; inzwischen kam Willich; er beredete mich, in einem an der Brücke gelegenen Gasthaus einer Erquickung zu nehmen. Er übergab mein Pferd einem Kameraden und führte mich dahin. In einem großen Zimmer saßen um einen Tisch Teile von seinem Corps versammelt. Willich sagte ihnen, wer ich sei, und so gesellten wir uns zu den ermüdeten Brüdern. Sie tranken Wein aus großen Kelchgläsern; wir wurden mit ihrem Geläute bewillkomt. Aber – „es scheuchte sie alle ein trüber Gedanke vom blinkenden Wein, tief in die Melancholie.“
„Mathilde!“ hob Willich mit seinem eigentümlichen Pathos an, „mir ist, als möcht‘ ich mich heute ins Grab legen.“
Er wollte mir eben auf meine dringende Frage antworten, da wird er abgerufen. Engels3, der Adjutant bei ihm war, nahm seinen Stuhl neben mir ein. Durch ihn erfuhr ich, wie das gestrige Gefecht im Annweiler Tal einen so unglücklichen Ausgang genommen habe, wie dort einer der liebsten Brüder Willichs gefallen, wie er diesen während des Sterbens an sein väterliches Herz gedrückt und wie er ihn als Leiche dann zurückgelassen habe, um sich wieder von Neuem in den Kampf zu stürzen. Zum Gegensatz dieser Weichheit habe er eine solche Verwegenheit gezeigt, dass, als ihn bereits sein weißes Ross unter dem Leibe erschossen sei, man ihm zugerufen habe. „Willich! Wenn Du uns weiter gehst, schießen wir auf dich.“
Der ganze Plan, der Willich gestern von uns hinweg geführt hatte, war mit diesem unglücklichen Gefecht gescheitert. Willich wollte nämlich die Offensive ergreifen, und zwar in Preußen einfallen. Der Feind aber hatte bereits die Grenzen besetzt, und unsere Kämpfer konnten nicht mehr durchdringen; sie stießen daher schon im Tal bei Annweiler auf hartnäckigen Widerstand, der uns schwere Verluste kostete. Wieviel indes mit der glücklichen Ausführung des Plans erreicht worden wäre, das hatten wir zu sehen gehabt. Jedenfalls würde Herr Brentano eine Beschämung mehr gehabt haben, denn dass er es war, der zum Unglück der badisch-pfälzischen Revolution zu verhindern gesucht hat, die benachbarten Länder Preußen, Württemberg, Hessen mitzuinsurgieren, indem zeitig, vor dem Einmarsch der Feinde, von unseren Truppen kräftigst die Offensive dahin musste ergriffen werden, das ist eine unwiderlegbare Tatsache. Ich weiß, wie Rheinpreußen auf ein solches Befreiungsheer gehofft und geharrt hat. – Und kam es nun gar, an seiner Spitze Willich, dessen Name gleichsam zum Symbol geworden war! – ich bin überzeugt, zur Lawine würde das Heer sich fortgewälzt haben, bis in das Innerste unseres Landes hinein. Nun war es zu spät!
Das Urteil Engels über die Erhebung Badens und der Pfalz hatte ich nicht mehr Gelegenheit, aus seinem Munde zu hören. Es wäre mir interessant gewesen, von dem Redakteur der eben zu Grabe getragenen „Neuen Rheinischen Zeitung“, welcher gerade in seinen Prognosen der Revolution in den verschiedenen Ländern so geistvoll sich geäußert hatte, auch hier eine solche gestellt zu sehen. Ich hatte von ihm weiter nichts als die Überzeugung gewonnen, dass ein geistreicher Schriftsteller, ein scharfer Denker und schonungsloser Kritiker auch ein guter Kämpfer in den Reihen sein könne. Sein Eifer und sein Mut wurden von seinen Kampfgenossen ungemein lobend hervorgehoben, so z. B. hat er tagelang in Ermangelung eines Pferdes seine Adjutantendienste zu Fuß verrichtet.
*
Es war Abend geworden, wir rückten mit unserem Generalstab und einem großen Teil unseres Heeres nach Karlsruhe in die Quartiere. In dieser ehemaligen großherzoglichen Residenz herrschte eine sonderbare Stimmung, die uns gerade nicht den freundlichsten Empfang von den Einwohnern, wie wir‘s bisher in der Pfalz, dem Land des süßen Weins und der Gemütlichkeit, gewohnt waren, bereitete. Wir wunderten uns übrigens durchaus nicht über diese Art von Gastlichkeit, kannten wir doch gar zu gut den bösen Dämon, der hier hinter allen Wänden lauerte, und den Geist, der über diese Stadt herrschte.
Wir waren mit dem ganzen Generalstab in einem Hotel am Marktplatz abgestiegen. Hier besuchte mich eines morgens Kinkel4. Ich hatte ihm noch Briefe von seiner Frau zu übergeben und Grüße zu bringen, die sie mir auf meiner Rheinfahrt an der Anhaltsbrücke zu Bonn mit einer so unendlich schmerzlichen Mine, wie ich sie nie vergessen werde, für ihn aufgetragen hatte. Ich fand ihn ziemlich heiter und trübte seine Stimmung keineswegs durch unnötige Mitteilungen. Er sprach mir seinen Entschluss aus, dass er die Muskete in die Hand nehmen wolle und sich sogleich unter die schwarze Fahne, die uns gerade vor unserem Fenster aus den Reihen der Willichschen Kämpfer ernst entgegenwehte, begeben wolle. Ich meinte, Kinkel, der eine so überwiegende Macht durch sein persönliches Auftreten, durch seine Rednerkraft auf die Massen ausübte, – ich meinte, Kinkel habe seine Aufgabe ganz und gar verkannt. Er musste der Agitator im Heer sein – und bleiben. O, es tat große Not, unsere kampfungewohnten Jünglinge an den Vorabenden einer Schlacht mit Mut zu entflammen, ihnen den hohen Preis der Freiheit vorzuhalten, für welche sie ihre Brust den Kugeln darböten. Gottfried Kinkel hatte den Beruf eines Thomas Münzer. Aber es mochte sein, dass er der vielen Worte müd‘ war und seine Tatenlust und Kampfbegierde ihn hieß „mit einhauen“. Er nahm Abschied von mir, um sich sogleich da unten als Wehrmann in die Kompanie des Willichschen Corps, „Besancon“ genannt, aufnehmen zu lassen. Willich begrüßte ihn mit Handschlag. Die Brüder empfingen ihn mit jubelndem Hochruf.
Aus dem badischen Hauptquartier war von dem Oberbefehlshaber Mieroslawski durch mehrere Ordonnanzen, an die General der pfälzischen Division, der Befehl gekommen, Anneke solle sich unverzüglich zu ihm nach Heidelberg begeben, um als Kommandant der badischen Artillerie und zugleich als Generaladjutant Mieroslawskis ihm bei einem Haupttreffen zur Seite zu sein. Dieser Befehl ward ihm nicht eröffnet, was der General Sznaide für eine Absicht dabei hatte, ist uns nicht bekannt geworden, erst nach abermaliger Wiederholung solchen Befehls gelangte er an Anneke. Schleunigst wurde unsere Abreise festgesetzt; als wir indes die Eisenbahn besteigen wollten, waren die Züge unterbrochen, wir konnten nicht mehr zu dem Ort der Bestimmung gelangen. Der Kampf musste bereits heiß entbrannt sein. Es blieb uns nichts anderes übrig, als zur Unterstützung der Hauptmacht in dieser Schlacht mit den in Karlsruhe liegenden Truppen und mit dem sich dort befindenden Kriegsmaterial unter Befehl des General Sznaide noch an demselben Abend aufzubrechen. Es wehte eine laue Nachtluft. Anneke führte selbst die bedeutende verstärkte Artillerie; das dumpfe Gerassel der vielen Geschütze, das feierliche Schweigen eines sich fortwälzenden Heeres auf engen Wegen durch Wälder und Felder, hatte etwas ungemein Eindrucksvolles. Dazu kam hier die Bereitwilligkeit unserer Wegführer, der braven einheimischen Landsleute, dass sie mit Pechkränzen und Fackeln uns den Weg beleuchteten. Einige Ordonnanzen, die ich in dieser Nacht zu dem sich vor uns bewegenden Infanterie-Kommandeurs zu reiten hatte, machten mir die Sache noch interessanter. Vor Mitternacht erreichten wir so das Örtchen Blankenloch. Hier wurde von Gros Halt gemacht, nur Willich wurde mit seinem Corps und zwei Kanonen nach Spöck, eine Stunde weiter, vorgeschoben, dort vorkommenden Falls einen Angriff zu machen. Unsere Krieger hatten bereits ihre Glieder auf das blanke Pflaster des Städtchens ausgestreckt; wir hingen noch auf den Pferden; die Einwohner schauten, aus ihrem ersten Schlaf geweckt, aus allen Fenstern ihrer kleinen Hütten heraus. Der Anblick dieser Kriegsrüstungen da so unmittelbar vor ihren Türen mochte ihnen keinen geringen Schrecken eingejagt haben. Als ich ein Wirtshaus öffnete, fanden wir es ratsam, der frisch wehenden Nachtluft jetzt ein wenig auszuweichen und uns eine kleine Labung mit einem Stückchen Brot und etwas Schnaps angedeihen zu lassen. Auf dem Boden des Gastzimmers lagen bereits mehrere Kampfgenossen im süßen Schlummer. Das Beispiel war ansteckend. Ich fing auch bald an, auf meinem Sitz einzunicken. So mochte ich denn etwa eine Stunde in einer unbequemen Situation geschlafen haben, als ich plötzlich sehr hastig geweckt wurde. Anneke winkte mich schleunigst hinaus, „an die Pferde, aufgesessen!“ Diesmal ließ er mich wenigstens den Grund der Eile wissen, er flüsterte mir nämlich beim Aufsteigen zu: Eben sei dem Generalstab Meldung von Willichs gänzlicher Vernichtung bei dem nächtlichen Gefecht gekommen, die Kanonen seien eine Beute des Feindes geworden, und so hieß es denn nun für uns „ins Feuer!“ Ich hatte wahres Zähneklappern vor Kälte bei diesem Morgengruß. Wir setzten uns rasch in Bewegung in der Richtung zum Kampfplatz. Ein herrliches Tal lag im aufsteigenden Morgennebel vor uns.
„Wir reiten still, wir reiten stumm,
Wir reiten in’s Verderben.“
Das war ein Morgengebet in stoischer Ergebung. Einige Verstreute, auch einige Verwundete, kamen uns schon entgegen. Ihre Berichte lauteten entweder: „das Tal ist schwarz von Pulverdampf“, oder „es ist schwarz von Preußen“. Diese Stereotype wollten mir fast schon meinen Humor wieder bringen, da auf einmal erblicken wir Willich, ihn selbst mit seinen Adjutanten. Also, er lebte doch noch, woran wir schon zweifeln mussten. Wie verkehrte sich da plötzlich unsere Sorgen in Freude. Falsche Nachrichten waren von einigen feigen Ausreißern überbracht worden. Die Kanonen waren nichts weniger als erobert, die hatten sich leider gar zu zeitig aus dem Staub gemacht, und zwar wurde behauptet, die Pferde seien scheu geworden und hätten eine gewaltige Unordnung unter den streitenden Kämpfern hervorgebracht; allerdings war der Fuhrsoldat durch die Flucht der Tiere getötet, übrigens waren die Verluste nicht groß, und die feindlichen Vorposten waren zurückgewichen.
*
(…) Anneke hatte mit dem Generalstab, der in Blankenloch zurückgeblieben war, Unterhandlungen über das Vorrücken der Truppen gepflogen. Er war entschieden dieser Ansicht und glaubte Mieroslawski bei der Schlacht unterstützen zu können, die nach dem Schall des Kanonendonners heftig entbrannt sein musste – während der General Sznaide, der ohne Befehl des Obergenerals, und zudem über die Stellung der Preußen und Kenntnis geblieben war, dies nicht unternehmen wollte.
Um über diesen letzten Zweifel ins Klare zu kommen, ordnet der Anneke einen Rekognoszierungszug an. In Begleitung eines Detachements badischer Dragoner verließen Annike und ich am Nachmittag das Lager, um unseren feindlichen Landsleuten einmal mit eigenen Augen auf die Spur zu kommen. Bis jetzt hatte ich noch keine Pickelhauben wiedergesehen, und da unser Ritt auf mehrere Stunden weit ausgedehnt werden sollte, ließ sich erwarten, dass uns die Freude noch vor Abend zuteilwürde. Wir versahen uns daher mit guter Schusswaffe zur Verteidigung unserer Personen und ritten ab. Aber wie weit wir auch ritten, überall ergab es sich auf die Erkundigungen Annekes, dass feindliche Truppen uns mehrere Stunden voraus in der Richtung nach Heidelberg gezogen waren. Wenn wir also, statt länger müßig im Lager zu liegen, aufbrachen, so kamen wir vielleicht noch zeitig zu dem Haupttreffen, das vor uns stattfinden musste, und gewannen vielleicht eine glückliche Stellung im Rücken des Feindes. Anneke sandte mit dem Resultat der Rekognoszierung reitende Ordonnanzen in das Hauptquartier ab. Dies hatte zur Folge, dass erst mit nächstem Tagesanbruch aus dem Lager aufgebrochen und dem Feind nachgerückt wurde. Der Abend neigte sich bereits, als wir wieder in unser fröhliches Lager einkehrten; zu gleicher Zeit traf auch der Generalstab ein. Auf der Wiese lag Stroh ausgebreitet, auf der Menschen und Pferde sich nebeneinander betteten. Selbst unser alter General wollte im Tau der Nacht sich für die Strapazen der folgenden Tage stärken. Die Sorgfalt der Kameraden hatte inzwischen für mich wieder das Beste ausgedacht. Sie hatten mir zur Ruhe für die Nacht ein Laubzelt gebaut, so dicht und fest, dass kein Lüftchen durch dasselbe wehte. (…)
*
Der Morgen dämmerte erst eben, als ich aus meinem Zelt heraustrat. Wir mussten ja zeitig aufsitzen, da wir in die Schlacht ziehen wollte. Anneke hatte den Befehl, die Avantgarde zu führen; er ließ Reveille schlagen, um bald loszurücken. Der Marsch geschah auf Bruchsal. Als wir uns den Stadttoren näherten, glaubten wir, preußisches Militär zu erblicken. Unsere Spitze (d. h. eine gewisse Anzahl Truppen, die zunächst auf den Angriff bereit ist) wurde vorgeschoben; wir folgten ihr unmittelbar. Das Gros indes, bei welchem sich der Generalstab befand, blieb in dem Wald, eine Stunde von der Stadt entfernt, ein wenig zurück. Unsere Enttäuschung verkehrte alsbald wieder feindliches preußisches Militär in unser befreundetes badisches. Der Unterschied in den Uniformen dieser Truppen war nämlich nicht groß und erstreckte sich auf einige Litzchen mehr oder weniger. Eine führte die Avantgarde also nicht nur ohne Widerstand des Feindes, sondern unter freundlichen Empfangsgrüßen der Freunde in die Stadttore von Bruchsal ein. Ich bekam die Weisung, dem Generalstab Meldung zu machen. Ich tat das und wurde mit Lächeln, das plötzlich von einigen ängstlichen Gesichtern strahlte, empfangen. Als ich, meines Auftrags entledigt, im ruhigen Schritt zurücktritt, flogen Ordonnanzen mir voran, die auf den Schrecken hin ein gutes Frühstück in Bruchsal bestellen mussten.
Nach einem kurzen Aufenthalt hier wurde Anneke mit seiner Avantgarde von etwa 600 Mann bis Ubstadt vorgeschoben. Willich deckte unseren rechten Flügel. Wir ritten zu gleicher Zeit aus den Toren der Stadt. Sein Corps erwartete ihn hier. Bei seinem Anblick schwenkten die Brüder (anders pflegte er seine Leute nicht zu nennen) ihre Hütchen und riefen ihm entgegen: „Willich soll leben!“ – „Und mit euch sterben“, war seine Antwort.
Inzwischen liefen trübselige Nachrichten von vielen Seiten über die verlor‘ne Schlacht Mieroslawski‘s ein; sie gewann an Wahrscheinlichkeit sehr durch die gleichlautenden Mitteilungen. Anneke sah seine Position für sehr bedenklich an. Er ritt selbst hinaus, die Vorposten sicherzustellen und wartete jeden Augenblick auf Verwaltungsbefehle vom Generalstab. Man musste annehmen, dass dieser doch bereits von der Stellung des Hauptheeres unter Mieroslawski‘s Oberbefehl definitive Kenntnis erhalten habe. Die Dunkelheit der Nacht brach an, sie verging auch wieder, ohne dass ein Befehl gekommen wäre. Umso eifriger langten Botschaften aus den umliegenden Orten an Anneke an; hiernach war Mieroslawski gänzlich geschlagen, mit seinem Heer auf der Flucht durch die Gebirge begriffen, die Preußen rückten in unabsehbaren Massen auf der Hauptstraße heran, und ihre Spitzen hatten bald unser kleines Örtchen erreicht. Unsere Vorposten machten ähnlich lautende Meldungen. Hier in dieser Stellung mussten wir also bald erdrückt werden. Anneke wollte die Verantwortung eines passiven Widerstandes nicht auf sich nehmen, er berief also die obersten Führer der Avantgarde zu einem Kriegsrat zusammen, machte sie mit den über Nacht eingelaufenen Botschaften bekannt, sagte, dass er vergebens auf Verhaltungsbefehle vom Generalstab harre, der Augenblick aber so dringlich sei, dass nunmehr ein längeres Warten nicht ratsam erschiene, sondern ein Herausziehen aus solch ungünstiger Position, selbst auch ohne Befehl, notwendig. Im Kriegsrat erklärte man sich vollkommen einverstanden, und es wurde nur noch die Maßregel beschlossen, reitende Ordonnanzen mit fliegender Eile ins Hauptquartier mit der Meldung zu senden, dass bei der Lage der Dinge, wenn mittlerweile nicht ein anderer Befehl eintreffe, die Avantgarde den Rückzug aus Bruchsal antreten werde. Es mochte während all diese Operationen vielleicht fünf Uhr geworden sein, der Kriegsrat wurde aufgehoben, und Willich trat ein. Auch er war noch in gänzlicher Unkenntnis über den Stand der Sache. Seit mehreren Stunden schon waren unsere Leute auf den Beinen. Es hieß jetzt „Aufgesessen“. Da endlich langte der definitive, längst ersehnte Befehl zur Verteidigung des Dorfes an. Anneke traf seine Positionen. Da der Ordonnanzen jetzt für mich und den Adjutanten zu viel wurden und ein junger Berittener sich zur Disposition erklärte, wurde derselbe als zweiter Adjutant angestellt; er hatte ein rasches Pferd und war ein kräftiger Mann, der in diesem Augenblick zustattenkam. An den Eingängen des Dorfes wurden Barrikaden aufgeworfen, und diese Zurüstungen setzten die armen Bewohner in die furchtbarste Angst; ach Gott, wie liefen da meine alten Mütterchen von gestern verzweifelt umher, die Hände über den Kopf zusammenschlagend, flüchteten sie alle zu mir, als könnte ich ihnen sagen, welche Gefahr ihren Hüttchen, ihrem Leben drohe. Was konnte ich ihnen für Trost geben, was hätte ich ihnen raten können! Ich befand mich mitten in den Schrecken des Krieges, ohne ein einziges Angstgefühl für mich, nicht aber ohne das tiefste Mitleiden um diese Armen da zu haben. Willich war mit uns auf die das Dorf umschließende Höhen geritten, welche zur Verteidigung mit den Geschützten besetzt werden sollte. Gerade in dem Augenblick, als wir von hier aus in den Ebenen in dem ersten Sonnenstrahl die blitzenden Helme unserer feindlichen Landsleute erblicken, ereilt uns der Befehl zum Vorwärtsrücken, auf den Feind los. Also ging's jetzt wirklich in den Kampf, der Frühmorgen leuchtete in seiner vollen Pracht dazu. Willich nahm mit Handschlag Abschied von uns und eilte zu den Seinen, die eine Stunde seitwärts von uns lagen. Als wir ins Dorf herabkamen, war die Verwirrung hier noch größer geworden. Jetzt konnte ich doch wenigstens die Beruhigung geben, dass, wenn wir schnell fortkämen, der Kampf hoffentlich von ihm ferngehalten würde. In furchtbarer Eile wurden nun auch alle Streitkräfte wieder zusammengezogen und begannen auszurücken. Ich befand mich an der Seite Anneke’s, an der Spitze unserer Gruppe. Wir hatten das Weichbild des Dorfs verlassen, aber noch nicht ganz die erste Höhe erreicht, da unerwartet, wie Blitzstrahlen aus heiterem Himmel, schießen die feindlichen Feuerschlünde auf uns los und senden einen Regen von Spitzkugeln um uns her, mit pfeifendem, unheimlichem Getön.
Nach diesem kurzen Vorspiel, das unsere, im ersten Augenblick verdutzten Tirailleurs5, die uns zu beiden Seiten standen, nur etwas schwach erwiderten, begann der Feind bald mit Kanonen auf uns zu feuern. Das schien unseren Streitern sehr zu imponieren; wir hatten nichts Nötigeres zu tun, als uns dem Kugelregen mit Ruhe und anscheinend Gleichmut auszusetzen und sie zu ermutigen. Viele wollten schon weichen; die Zurede Anneke‘s aber, sie sollten nur fleißig laden und schießen auf unsere Feinde, sogleich auch werde unser schweres Geschütz ihnen aufspielen, feuerte sie an. Ich bekam die Weisung, zwei Berghaubitzen, die nicht fern von uns in der Niederung hielten, heraufzubeordern zu solchem Zweck. Ich sprengte zu dem sie führenden Offizier, hatte ihn aber noch nicht erreicht, als der seine wilde Flucht anzutreten eben im Begriff ist. Ich hole ihn natürlich mit meinem raschen Pferd ein, bewege ihn auch durch eine sehr nachdrückliche Meldung des Befehls zum Umkehren, indes die uns ins Antlitz speienden Zündnadelgewehre machen auf den Feigling solchen Eindruck, dass er nicht voran will. Ich suche ihn zu ermutigen, ich sag ihm auch, er werde augenblicklich erschossen, wenn er in diesem wichtigen Moment den Befehlen nicht Folge leiste – er setzte sich auch zögernd in Bewegung, da aber rückt er in seiner List mit der Lüge heraus: Er habe den Munitionswagen vergessen. Ich erwidere ihm nicht lange, dass hinlängliche Munition im Protzkasten, der sich an der Kanone befindet, sei, sondern sprengte in hastiger Eile zu Anneke zurück und teilte ihm den Vorfall mit. Der reitet schleunigst jetzt zu dem schon wieder mit den Kanonen fliehenden Offizier, setzt ihm die Pistole auf die Brust, und – wollen oder nicht – bringt er ihn rasch ins Feuer.
Jetzt kam für mich einen Augenblick des Schauderns. Links an meiner Seite, etwa vier Schritte entfernt, stand ein Blousenmann, der eifrig seine Büchse lud und mit großer Ruhe anlegte. Eine in diesem Augenblick anschnaubende Kanonenkugel streckte den Kämpfer nieder. Sie hatte ihm das Bein mitgenommen. Lautlos lag der junge Held da am Boden und änderte keine Miene in seinem bleichen Angesicht. Ich wollte ihm beispringen, allein, ich sah bald ein, wie unzulässig das auf diesem Platz sei – umso mehr noch, da die Kameraden ihm bereits so kräftige und gewandte Hilfeleistungen brachten. Diese legten nämlich ihre Gewehre übereinander und machten so eine Tragbare, vermittelst welcher sie den Verwundeten am besten aus dem Getümmel tragen konnte. Das Gefecht hielt sich eine Weile sehr hartnäckig auf dieser Höhe; dann aber mussten unsere Truppen, die nicht mit voller Kraft Stich hielten, sich in das Dorf zurückziehen. Hier bekam ich nun die Sendung zum Generalstab, der sich mit dem Gros auf der Straße von Bruchsal befand; ich sollte ihm ausführlichen Bericht über den Stand des Gefechts machen. In meinem Diensteifer begab ich mich aus dem Kugelregen schleunigst fort. Da kam mir der Argwohn in den Sinn, dass Anneke mich vielleicht absichtlich aus dem Gefecht sende und mich der ihn umgebenden Gefahr nicht mehr aussetzen wolle. Gern wäre ich wieder zurückgeritten und hätte mich geweigert zum Gehorsam, allein bedachte ich wieder, wie wichtig es sei, eine Verstärkung durch die Hauptmacht herbeizuführen –denn das Motiv lag eben meiner Meldung zugrunde –, so spornte ich mein Pferd zur Eile an. (…)
Mittlerweile war der Kampf in Ubstadt selbst heiß entbrannt. Ich hatte jetzt keinen anderen Gedanken mehr, als die Gestalt Annekes im Pulverdampf wieder zu erblicken. Die Toten und Verwundeten, die da am Weichbild des Orts auf den vielen Wagen lagen, machten einen tiefen Eindruck auf mich. Ich versuchte durch die Reserve zu dringen und in die Kämpferreihen zu kommen, woselbst ich Annette zu finden wusste, aber vergebens. (…)
Das Gefecht wurde immer heftiger, einige Bataillons von den unsrigen schlugen sich brav, sie wurden aber auch mit vieler Tapferkeit von ihren Obersten geführt. (…) Das Dorf indes konnte nicht lange gehalten werden. Anneke ließ sich noch immer nicht sehen. Mein Auge stierte lange vergebens in das Gewölk des Pulverdampfes, es fand ihn nicht. Endlich kommt er wohlbehalten heraus, und da er das Terrain zur fernen Aufstellung der Geschütze rekognosziert, gelingt es mir, ihn zu erreichen. Kaum hatten wir uns die Hände gereicht, da brauste auch schon wieder eine Kanonenkugel durch die Dächer von Ubstadt und ließ sich gerade vor unseren Füßen nieder. Anneke verlangte von mir, dass ich zur Reserve zurückritt, ich fügte mich seinen Wünschen, ja, ich sah insofern die Notwendigkeit ein, als mein Pferd abgeritten war. (…)
In der glühenden Sonnenhitze, in einer Staubwolke, wie ich ihresgleichen noch nicht sah, hielt ich mich hinter den Reihen der Kämpfenden auf; der quälende Durst machte mich endlich mobil, um in dieser Wüste nach einem Tropfen Feuchtigkeit zu suchen, ich fand ihn in der beinahe versiegten Flasche unseres Generals. Als wir eine Zeitlang auf der Heerstraße uns befanden, ereignete sich vor uns ein eigentümlicher Vorfall. Ein Detachement preußischer Ulanen sprengte plötzlich durch die Ebene mit solcher Verwegenheit in unsere Reserve hinein, dass diese im ersten Augenblick scheu auseinanderwich. Freilich hätte man nicht anders denken sollen, als diesem Vortrab folgt sogleich ein schweres Kavallerie-Regiment, das uns alle aufreibt. Was war zu tun? Viele unserer Scharfschützen hatten bei dem ersten Vorspringen eine glückliche Position auf einer Anhöhe erreicht. Man ruft ihnen zu: schießt, schießt! Einige Beherzte legen an, sie zielten wacker, denn von den kühnen Reitern sanken mehrere zu Boden. Dem Beispiel folgten die anderen. Sie alle, Mann für Mann, werden von ihren Kugeln hingestreckt – es waren, wie ich höre, 16 an der Zahl, davon der Rittmeister bei der letzten Kugel, die ihm den Kopf zerschmetterte, um Pardon bat. Die schönen Pferde und Fähnlein der Feinde wurden die Kriegsbeute unserer Sieger. Durch die letzten glücklichen Positionen unserer schweren Geschütze gelang es, mit vieler Wirkung unsere Geschosse in die feindlichen Reihen zu senden; nach einem hartnäckig anhaltenden Feuern aus Zwölfpfündern brachte unsere Artillerie das feindliche Geschütz zum Schweigen. Ich begab mich mit dem Generalstab nach Bruchsal zurück. Anneke unterhielt das Gefecht noch mehrere Stunden lang. Ob endlich gegenseitige Ermattung oder der herannahende Abend beide Streitenden zum Zurückweichen brachte, oder ob der Feind hinter uns noch eine kolossale Macht fürchtete, ich weiß es nicht. (…)
Anneke kehrte unversehrt aus dem Kampf nach Bruchsal zurück. Unter den ermüdeten Truppen war die Stimmung wie nach einem glorreichen Sieg.
*
Das Revolutionsheer war bereits an den Ufern der Murg, die längs Rastatt fließt, zusammengezogen. Hier an der Festung gelehnt, sollte es noch eine entscheidende Schlacht schlagen. Die preußische Armee stand bereits vor Rastatt, nachdem der Festung kaum vier Tage Zeit gelassen war, sich in Verteidigungszustand zu setzen. Dazu waren ihre Werke noch im Bau begriffen und an Proviantierung ihrer Magazine nicht gedacht. Die Schlacht in dem Wald vor Rastatt begann am Morgen des 29. Juni. Einige Stunden vor Eröffnung derselben begab ich mich auf die Festungswerke. Dort bekam ich ein Pferd, welches nur einige Ordonnanzritte mit mir aushielt; mein eigenes Pferd sowie die übrigen Dienstpferde waren verschwunden, während wir von dem Heer entfernt gewesen waren. Von den Wällen her hätte man ein imposantes Schauspiel der Schlacht, man sah in die Ebene, deren Halbkreis vor uns, in Flammen, gespien aus tausend Feuerschlünden, lag. Dazu der rollende Kanonendonner, den die Berge hoch in vielfachem Echo zurückgaben.
Diese Kriegsmusik war die mächtigste, die ich je gehört habe; sie begann in ihren volltönenden Akkorden den Mut unserer Kämpfer anzufeuern. Ein Bataillon nach dem anderen sandte man in die lodernde Schlacht. Einige zogen mit Sang und Klang freudig hinein. Der Sieg neigte sich augenscheinlich auf unsere Seite. Der Feind wurde mächtig zurückgeschlagen, sein Verlust war sehr groß, besonders an Offizieren. Ich war auf den Wällen neben den Kanonen sitzen geblieben und hatte nur die Siegesfreude der Unsrigen diesmal geteilt, während Anneke mit Miroslavsky unmittelbar im Feuer außerhalb der Festung stand. Die Festungsartillerie unterstützte von diesem Platz durch einige wirksame Schüsse bisweilen unsere Kämpfer da unten. (…)
Gegen Abend spät war der Sieg im Zentrum und auf dem linken Flügel vollständig unser. In der Stadt loderten Freudenfeuer und Illumination. An Verlusten zählten wir wenig, und unsere Kämpfer kehrten siegesgekrönt für die Nacht zurück. Der folgende Morgen fand alles in erneuter Tätigkeit. Ich bestieg mein altes Pferdchen, das sich wiedergefunden hatte, und tritt schon vor fünf mit Anneke zu den Wällen. Da begegnet uns Beust. Er hatte sich gestern auf dem rechten Flügel bewegt. Seine Miene passte keineswegs zu der allgemeinen Siegesfreude. Ach, und seine Mitteilungen bildeten erst recht grell den Kontrast. Der Feind hatte einen Flankenmarsch durch württembergisches Terrain zu bewältigen Stelligen gewusst, war unserem rechten Flügel in den Rücken gefallen und hatte so unsere Siegerreihen durchbrochen. Selbst ein heftiger Widerstand der unseren hatte nicht vermocht, ihn zurückzuhalten. Er marschierte in unabsehbare Kolonnen längs der Murg rechts an der Festung vorbei. Obgleich an diesem Morgen alle in der Festung unnötigen Truppen nach dieser Seite hingeworfen wurden, obgleich sie noch die verzweifelten Gefechte bei Kuppenheim und Oos hier lieferten, so glich doch das Kriegsgetümmel von heute gar bald einem in wilder Flucht aufgelösten Heer. Unsere Anstrengungen auf den Wällen Rastatts an diesem unglückseligen Tag nach dem glorreichen von gestern geben das traurigste Bild eines Kriegslebens. Die lautlose Stille nach dem gestrigen Donnerhall war nicht zu ertragen. Die Untätigkeit der braven Artilleristen, die mehr denn je auf Taten am heutigen Tag gerüstet waren, schmerzte tief. Viele hatten die Köpfe auf die Kanonen gesenkt, und doch richteten sie sich dann und wann in schwacher Hoffnung wieder empor, sendeten im Unmut ihre Kugeln auf einzelne Feinde, wenn sich diese verwegene ist in den Bereich der Festung schlichen. So unter Hoffnungslosigkeit und stummem Missmut war nach dem trüben Morgen der heiße, versengende Mittag gekommen, und der Abend nahte schon im Tal mit seiner dunklen Ratlosigkeit. Wir waren seit der Frühe noch nicht von unseren Pferden gestiegen, sondern in steter Beobachtung hin und her im Rayon geblieben. Ich hatte furchtbaren Durst gelitten, nur eine einzige Erquickung in etwas Speise war mir zuteilgeworden. Der Vereine Kalkstaub, der bei den neuen Bauten der Festung hier wehte, legte sich uns, eine ätzende Substanz, auf die Lippen und verursachte einen brennenden Durst. Stundenlang waren Anneke und ich schweigend nebeneinander geritten, sprechen konnten wir nicht mehr denn das Bewusstsein unserer verlorenen Hoffnung, unserer verlorenen Schlacht presste uns die Brust zusammen. Endlich aber brach ich das Schweigen in einer Frage an ihn: Ob wir denn wirklich verloren? Sein einfaches „Ja“ als Antwort klingt mir wie die Todesverkündung noch durch die Seele.
Das Schicksal der Festung stand fest. Ach, und dennoch, von allen Seiten drängten sich die zersprengten Scharen herbei, als wollten sie sich bergen, hier, unter den Mauern der Festung. O, hätte ich ihnen doch zurufen können, kommt, flieht mit uns, vielleicht gibt‘s noch einen Ausweg. Aber für mehr denn 6000 Menschen musste dieses große Grab sich öffnen.
„Folge mir rasch“, sprach Anneke, „warum sollen wir uns auch in dieser ohnehin verlorenen Stätte begraben lassen?“ Nach Rheinau zu, von wo aus wir noch mehrere Stunden bis zur französischen Grenze hatten, befand sich ein Tor, an diesem war der Befehl zur Schließung der Festung noch nicht ergangen; man ließ uns noch ohne Hindernis passieren. Als wir eine Strecke die Festung im Rücken hatten, begegnet uns ein Truppenkorps, geführt von Oberst Doll, bestehend aus Infanterie, Kavallerie und mehreren Geschützen. Es war in gänzlicher Unkenntnis über den Stand der Dinge, darum es sich nach Rastatt begeben wollte. Dieses retteten wir durch unsere Mitteilung von der Niederlage des rechten Flügels; gewiss ist, dass wir durch diesen Zufall etwa mehr denn tausend Kämpfer von den Kasematten gerettet haben. Wir bewegten uns nun auf den Rhein und hoffen, bei Iffezheim überzugehen. Während die Truppen sich auf der Landstraße dahin fortbewegten, ritten wir in Gemeinschaft zweier Offiziere und unsere Ordonnanzen, die uns nicht verlassen hatten, über den Rheindamm, durch waldigen Moorgrund in hastiger Eile, im stummen Schweigen. Schon dunkelte es, und wir mussten jeden Augenblick erwarten, auf feindliche Patrouillen zu stoßen. Kaum hatten wir das Strombett des Rheins, das sich hier in unzähligen Armen verzweigt und Inseln von grundlosen Sümpfen bildet, erreicht, indes noch kein Fahrzeug entdeckt, das uns ans rettende Ufer bringen sollte. Da plötzlich wendet einer von den uns begleitenden Offizieren sich um mit den Worten „Preußische Reiterpatrouille!“ Sein scharfes Auge wollte solche kaum hundert Schritte von uns erkennen. Wir warfen unsere Pferde um, sprengten durch den Wald zurück, wieder den Rhein hinab. Nachdem wir stundenlang so am Ufer hin und her vergebens nach Kähnen gespäht, die kalte Mitternacht nicht fern mehr und jeder Augenblick nun uns dem Feind näher bringen kann, nachdem unsere Pferde bereits ermattet, sehen wir kein anderes Mittel mehr, als uns auf eine schmale Landzunge, die sich da in den Rhein erstreckt und auf welcher Bündel von Reisig aufgeschichtet lagen, zu begeben, dort uns und unsere Pferde zu verbergen, während die Offiziere sich zu Fuß auf den Weg ins Gehölz machten, um einen Fischer mit seinen Kahn, der vielleicht in irgendeinem Arm des Rheins hier versteckt liegen konnte, zur Überfahrt zu bewegen. Wir waren glücklich auf das rettende Eiland gekommen, es war so schmal, dass, wenn ein Sturm die Wellen schlug, sie es ohne die geringste Schwierigkeit überspülten. Sein Teppich aus blankem Kieselgestein winkte mir zum Lager, da ich zum Umsinken erschöpft war. Allein, ich war auch so kalt; die feuchte Nachtluft, die über den Rhein blies, schnitt durch die Kleider mir, die ich am Morgen nur leicht und geeignet für die Tagesglut angelegt hatte. Mich mit einer Bluse, einem Mantel, Tuch oder dergleichen zu versehen, daran hatte ich in Rastatt nicht mehr gedacht. Mein Schlaf und meine Müdigkeit siegten über meinen schauerlichen Frost, selbst als ein nicht gelinder Regen auf uns herabfiel. Gegen diesen schützte mich so viel wie möglich die sorgende Hand Anneke‘s, die mich mit den zusammengebundenen Reisern bedeckte; mein kleines Feldhütchen musste mir zum Kopfkissen dienen, und so schlief ich dann endlich ruhig und gut wie auf seidenen Pfühlen. Ach, es war ja noch der heimische Strand, auf dem ich schlief und träumte.
„Fort, hinweg, hinweg!“, rief plötzlich, während ich so in meinem schönsten Schlummer war, eine barsche, gedämpfte Stimme: Fort! Fort! Hinweg, hinweg!“, so werden Flüchtlinge vom schönen heimischen Boden verstoßen. Ich raffte mich auf und folgte den Führer. Wir wateten durch sumpfiges Wasser hindurch von unserem Island herab zum Ufer hin.
„Lebewohl deutsche Erde, Lebewohl mein Mutterland!“, also klangs durch die Seele mir.
„Dort steht ein Kahn, er muss zweimal hinüber, denn er ist ein gebrechliches Ding, voll Wasser und fasst nur drei von uns, schleichen Sie dicht längst dem Ufer, noch eine ziemliche Strecke und Sie erreichen das Fahrzeug; nicht weit von ihm stehen preußische Vorposten, leise, leise hinein, legen sie sich nieder.“
Ich tat es willenlos, bis einige kräftige Ruderschläge des Fischers uns aus der Schussweite der feindlichen Vorposten versetzt hatten. Länger denn eine halbe Stunde irrten wir auf dem hier nur seichten Gewässer des Rheins umher. Dann brachte die schwankende Barke uns an das ungastliche Gestade Frankreichs.
Nacht und Öde umgab uns, keine Hütte am Ufer winkte mit ihrem Obdach den Flüchtlingen aus deutschen Landen. Stumm und schweigsam wanderten wir weiter durch die Nacht. Fort und fort klangs durch die Seele mir: „Lebewohl, deutsche Erde! Lebewohl, mein armes, unglückliches Mutterland.“
1 August Willich (1810-1878), ehemaliger preußischer Offizier, Mitglied im „Bund der Kommunisten“, hatte schon 1848 am „Heckerzug“ teilgenommen und befehligte nun als Oberst ein Pfälzer Freikorps. Nach Niederschlagung der Revolution Emigration in die USA, wo er im Bürgerkrieg als Brigadegeneral der Nordstaaten kämpfte.
2 Lorenz Brentano (1813-1891), Jurist und Politiker, war vor und während der Märzrevolution liberaler Abgeordneter der Zweiten Kammer der Badischen Ständeversammlung, 1848 Mitglied des Vorparlaments und der Frankfurter Nationalversammlung. Infolge der Aufstände im Mai 1849 wurde er an die Spitze der provisorischen revolutionären Regierung in Baden berufen, agierte dort aber aus Sicht der Führer des militärischen Aufstands viel zu zögerlich. Nach Niederschlagung des Aufstands emigrierte er in die USA und machte auch dort politische Karriere. 1876 wurde er ins US-Repräsentantenhaus gewählt.
3 Friedrich Engels (1820-1895) war im badisch-pfälzischen Aufstand Adjutant von August Willich. Er hatte kurz zuvor (1848) gemeinsam mit Karl Marx das „Kommunistische Manifest“ verfasst und kannte Mathilde Anneke aus Köln, wo er (ebenfalls gemeinsam mit Marx) die „Neue Rheinische Zeitung“ herausgab, während Mathilde Anneke, mit ähnlicher politischer Stoßrichtung, die „Neue Kölnische Zeitung“ leitete. Als die „Neue Rheinische Zeitung 1849 verboten wurde, empfahl Marx seinen Lesern dezidiert die Lektüre der Anneke-Zeitung.
4 Gottfried Kinkel (1814-1882) war Professor in Bonn und demokratischer Politiker (Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses), bevor er sich den Freischärlern anschloss.
5 Tirailleurs = Schützen.
Des Christen freudiger Aufblick zum ewigen Vater, Wesel 1839.
Der Heimathgruß. Eine Pfingstgabe, Verlag Johann Bagel, Wesel 1840.
Damen Almanach, Verlag August Prinz, Wesel 1842.
Das Weib im Conflict mit den socialen Verhältnissen (1847), in: Lesebuch Mathilde Franziska Anneke (s.u.)
Der politische Tendenz-Prozeß gegen Gottschalk, Anneke und Esser. Verhandelt vor dem Assisen-Hofe zu Köln am 21., 22. und 23. Dezember 1848, hrsg. nach den Akten, nach Mittheilungen der Angeklagten und nach stenographischen Aufzeichnungen der mündlichen Verhandlungen, Verlag Neue Kölnische Zeitung, Köln 1848.
Memoiren einer Frau aus dem badisch-pfälzischen Feldzuge, Verlag F. Anneke, Newmark 1853; Neudruck im Verlag tende, Münster 1982.
Das Geisterhaus in New-York. Ein Roman, Verlag Hermann Constable, Jena 1864.
Die gebrochenen Ketten. Erzählungen, Reportagen und Reden (1861-1873), herausgegeben von Maria Wagner, Stuttgart 1983.
Lesebuch Mathilde Franziska Anneke. Zusammengestellt von Enno Stahl. Bielefeld, Köln 2015 (Bücher der Nyland-Stiftung).
Maria Wagner: Mathilda Franziska Anneke in Selbstzeugnissen und Dokumenten. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 1980.
Manfred Gebhard: Mathilde Franziska Anneke, Neues Leben, Berlin 1988.
Norgard Kohlhagen: Mehr als nur ein Schatten von Glück. Die Geschichte der Mathilde Franziska Anneke, die 1849 im badisch-pfälzischen Feldzug mitritt, rororo Rotfuchs, 1990.
Klaus Schmidt: Mathilde Franziska und Fritz Anneke. Aus der Pionierzeit von Demokratie- und Frauenbewegung, Joachim Schmidt von Schwind Verlag, Köln 1999.
Diana Ecker: Der Freiheit kurzer Sommer. Auf Mathilde Franziska Annekes Spuren durch die pfälzisch-badische Revolution von 1849, Verlag Regionalkultur, Ubstadt-Weiher 2012.
Karin Hockamp, Wilfried Korngiebel, Susanne Slobodzian (Hrsg.): Die Vernunft befiehlt uns, frei zu sein! Mathilde Franziska Anneke (1817–1884). Demokratin, Frauenrechtlerin, Schriftstellerin, Münster 2018.
Irina Hundt: Mathilde Franziska Anneke (1817–1884): Eine radikale Demokratin auf zwei Kontinenten, in: Frank-Walter Steinmeier (Hrsg.), Wegbereiter der deutschen Demokratie. 30 mutige Frauen und Männer 1789–1918, München (C.H.Beck), 2021, S. 199–212.
Viktorija Bilić/Alison Clark Efford (Hrsg.): Radikale Beziehungen. Die Briefkorrespondenz der Mathilde Franziska Anneke zur Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs, Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2023.
MATHILDE ANNEKE
Abb: Wisconsin Historical Society
Biedermeier-Dichterin, revolutionäre Journalistin, Freischärlerin, Frauenrechtlerin – das Leben der Mathilde Franziska Anneke wäre eines Romans mehr als würdig. Ihr Kampf für politische Freiheit, für Demokratie und soziale Gerechtigkeit, ihr Einsatz für die Frauenrechte und gegen jede Form der Sklaverei – erst in Deutschland, dann im Amerika – machten sie zu einer der einflussreichsten Frauen des 19. Jahrhunderts. Ihr Leben wie auch die Texte der von den Konservativen als „Kommunistenmutter“ und „Flintenweib“ Geschmähten spiegeln ihr Lebensmotto wider: „Wer will, der kann!“
Ihr Engagement richtete sich dabei nie schlicht gegen die Männer, sondern gegen gesellschaftliche Verhältnisse und Konventionen, die Unfreiheit, Ungleichheit und Ungerechtigkeit zulassen und stets aufs Neue reproduzieren. Dafür insbesondere bei den Frauen ein handlungs-motivierendes Bewusstsein zu wecken, war eines ihrer Hauptanliegen: „Auf denn, ihr Schwestern!“
Am 3. April als ältestes von insgesamt zwölf Kindern des Ehepaares Karl und Elisabeth Giesler in der Nähe von Blankenstein an der Ruhr geboren, hat Mathilde Franziska eine unbeschwerte Kindheit und Jugend. Der Vater, Anteilseigener an Bergwerken, hat einen Gutshof, Mathilde lernt früh reiten und genießt eine sorgfältige Erziehung durch Hauslehrer.
Durch Fehlspekulationen des Vaters gerät die Familie in finanzielle Schwierigkeit. Schulden drücken. Da trifft es sich gut, dass ein wohlhabender Mülheimer Weinhändler um die Hand der 17-jährigen Mathilde anhält.
Heirat mit dem französisch-stämmigen Alfred Philipp Ferdinand von Tabouillot. Aber die Ehe ist nicht glücklich. Der 10 Jahre ältere Mann erweist sich als herrisch und gewalttätig. Schon ein Jahr später, 1837, reicht Mathilde die Scheidung ein.
Nach einem mehrjährigen Prozess, in dem sich Mathilde immer wieder an den Pranger gestellt sieht – dass die Scheidungs-Initiative von einer Frau ausgeht, ist ungewöhnlich – wird die Ehe erst 1843 geschieden. Auf sich allein gestellt, zieht Mathilde nach Münster und versucht sich als Autorin durchzuschlagen, schreibt religiöse Gedichte, Gebetbücher und biedermeierliche Frauenalmanache.
In Münster kommt Mathilde in Kontakt mit einem Kreis junger „Freisinniger“, die sich als „Demokratischer Verein“ regelmäßig treffen. Hier lernt sie Fritz Anneke kennen – und lieben –, einen ehemaligen, wegen seiner liberalen Gesinnung entlassenen preußischen Offizier. Die Beiden heiraten am 3. Juni 1847 und siedeln nach Köln über.
Wie in Münster werden die Annekes auch in Köln schnell zum Mittelpunkt einer Gruppe von Gleichgesinnten. Aus diesem Kreis heraus entstehen ab April 1848 sowohl der „Kölner Arbeiterverein“ (Präsident Andreas Gottschalk, erster Sekretär Fritz Anneke) wie auch die „Neue Kölnische Zeitung“, die maßgeblich von Mathilde gegründet und geleitet wird – neben der „Neuen Rheinischen Zeitung“ von Karl Marx die zweite bedeutende oppositionelle Zeitung in Köln.
Im Anschluss an eine Demonstration wird Fritz Anneke, gemeinsam mit anderen Führern des Arbeitervereins verhaftet und für mehrere Monate (bis Dezember) inhaftiert. Dennoch kann, unter Mathildes Leitung, die erste Nummer der "Neuen Kölnischen Zeitung" am 10. September 1848 erscheinen.
Als die „Neue Rheinische Zeitung“ nach der Niederschlagung des ersten badischen Aufstands verboten und Marx aus Köln ausgewiesen wird, empfiehlt er seinen Lesern in der letzten Ausgabe der NRZ vom 19. Mai 1849 in Zukunft Annekes NKZ zu lesen.
Aber die Ereignisse überschlagen sich. Als in Baden ein erneuter Aufstand ausbricht, schließt sich Fritz Anneke den Aufständischen an. Mathilde begleitet ihn und wird, als ausgezeichnete Reiterin, neben Karl Schurz, Adjutant ihres Mannes. Mit dem Fall der Festung Rastatt, in die sich die Aufständischen vor den fürstlichen Truppen zurückgezogen hatten, endet die deutsche Revolution. Den Annekes gelingt in letzter Minute die Flucht. Über die Schweiz emigrieren sie nach Amerika.
Die Annekes lassen sich in Milwaukee nieder und verdienen ihren Lebensunterhalt mit Vorträgen über deutsche Politik und Artikeln für deutsche Zeitungen.
Am 1. April 1852 erscheint die erste Ausgabe der von Mathilde gegründeten deutschsprachigen „Frauen-Zeitung“. Sie knüpft Kontakte zu amerikanischen Frauenrechtlerinnen und engagiert sich in der schärfer werdenden Sklaverei-Debatte. Sie hält von nun an regelmäßig Reden auf amerikanischen Frauenkongressen.
Nachdem der Kampf gegen die Sklaverei siegreich beendet ist, wendet sich Mathilde verstärkt der Frauenfrage zu, vor allem dem Wahlrecht, das den Frauen auch in den USA noch bis 1876 vorenthalten bleibt. Sie wird Vizepräsidentin der „National Womens Suffrage Union“ und gründet eine fortschrittliche Schule für Mädchen, die „Milwaukee German-English Academy“, die bald in bestem Ruf steht.
Am 25. November 1884 stirbt Mathilde Anneke – als inzwischen USA-weit geehrte Persönlichkeit. Fritz Anneke war bereits 12 Jahre zuvor, 54-jährig, durch einen Unfall ums Leben gekommen.
Daniela Dahn
Es ist gut, an Revolutionen zu erinnern, selbst wenn sie nicht gut ausgingen. Was wollten sie, warum sind sie gescheitert, was haben sie dennoch bewirkt – gleich oder später. Welche Forderungen sind bis heute nur halb oder gar nicht erfüllt. Wer waren die Revolutionäre, und wer könnte die offenen Rechnungen begleichen.
1848 – Frauen haben in ganz Europa keine bürgerlichen und politischen Rechte. Umso erstaunlicher – oder auch umso folgerichtiger –, wie viele von ihnen sich an den gewaltsamen Versuchen zum Umsturz der Unordnung beteiligen. Und dabei von den Männern nicht nur geduldet, sondern akzeptiert, ja erwünscht waren. Man sieht sie auf Abbildungen von Berliner Barrikaden Bleikugeln gießen, auf Feldzügen hoch zu Ross im Schlachtgetümmel oder man liest von ihnen verfasste Revolutionspamphlete. Eine dieser couragierten Frauen war Mathilde Anneke. Weiterlesen
Keine Arbeiterin aus prekären Verhältnissen, auch keine Kleinbürgerin, sondern wohlhabende Gutshaus-Tochter im Ruhrgebiet – vor dessen Industrialisierung, versteht sich. Die Atmosphäre dort streng katholisch und bieder, und so auch ihre ersten dichterischen Versuche. Ihr Dissidententum ist nicht angeboren, es entfaltet sich durch eigene bittere Erfahrungen (siehe die „Biografische Notiz“) und durch einen mitfühlenden Blick auf ihre Umgebung. Ihre erste und vielleicht schwerste Emanzipation ist die von den kujonierenden Kirchenmännern. Damit ist sie nicht allein.
1847 ergreift sie öffentlich Partei für das Geschick ihrer Mitstreiterin Louise Aston, das dem ihren so unverkennbar ähnlich ist. Während sie deren Schicksal anklagt, hört der Leser ihre eigene Klage. Mathilde bringt unter Schmerzen Louises Bekenntnis hervor, und man versteht, es ist ihr eigenes. Der preußische Innenminister hat Frau Aston wegen „frivoler“ Äußerungen der Hauptstadt verwiesen. Als diese dagegen protestiert und die Gründe wissen möchte, fragt S. Excellenz, weshalb sie ihrem Glaubensbekenntnis voranstelle, „dass sie nicht an Gott glaube“. Weil ich nicht heuchle, bekommt er zu hören. Sie habe Gott überwunden, die Zweifel an dessen persönliches Dasein erwachen täglich.
Und Mathilde übernimmt: Nur die Wahrheit befreit uns von dem trügerischen Wahn, dass wir dort oben belohnt würden für unser Dienen, Dulden und Leiden. Vielmehr würden die Gesetzestafeln von unseren Unterdrückern stammen, die sie zu ihrem Nutzen erlassen hätten. Und in ihrem Artikel „Kirche und Schule“ legt sie 1848 kräftig nach, eigene Verfolgung riskierend. Während die ganze Welt klüger werde, kämen die Mönche, diese „dümmsten Teufel“ mit ihrer Gelehrsamkeit nicht weiter, sie seien bloß müßiges Gesindel, das auf anderer Leute Kosten lebt. Kinder würden im Religionsunterricht viel zu früh mit Dingen behelligt, von denen sie nichts verstehen könnten, also „abgerichtet wie Hunde, dass sie geradezu dumm und zu Lügnern und Heuchlern gemacht werden“. Es sei von Übel, und das kann man heute nicht oft genug wiederholen, dass der unglückselige Zwiespalt und Hass zwischen den Religionen, wenn er in früher Jugend eingebläut wird, „niemals ein Ende nimmt“. Sie verlangt die Trennung von Kirche und Schule. Die immer wieder geforderte Trennung von Kirche und Staat ist in der Bundesrepublik bis heute nicht vollzogen, die von der Schule nur bedingt.
Mit der Emanzipation von den Kirchenmännern folgt für Mathilde Anneke zwangsläufig die Emanzipation von allen Männern. In ihrem grundlegenden Text „Das Weib in Konflikt mit den sozialen Verhältnissen“ hat sie am Exempel von Louise Aston ein Thema gefunden, dem sie sich ganz widmen wird. Das Weib möge nicht länger die schweigsame Dulderin sein sollte, die demütige Magd, „die ihrem Herrn die Füße wäscht“. Den Unglücklichen ihres Geschlechts sei stets „zu denken verboten“ worden.
Das hat sich Mathilde wahrlich nicht verbieten lassen. In ihrem im November 1848 erschienenen Text mit dem für sie offenbar alles sagenden Titel: „Rot!“, offenbart ihr Denken eine weitere Emanzipation. Rot ist für sie nicht die Couleur der Guillotine. Es ist nicht nur die Farbe, die für die in der Märzrevolution europaweit geforderte Abschaffung der Monarchie steht, sondern auch schon für das Ende der „tyrannischen Herrschaft des Kapitals“. Weil dieses sich das Recht anmaßt, „die Arbeit für sich auszubeuten“. Da scheint eine im Februar erschienene Schrift durch, die weltweit Aufsehen erregt hatte: Das Kommunistische Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels. Die rote Republik proklamiert das „Recht auf Arbeit“, schreibt Mathilde. Und erinnert damit nichtsahnend daran, warum unter anderem die Bundesrepublik nie eine „rote Republik“ sein wollte. Sie aber fordert eine Gesellschaft der Gleichen, mit „Wohlstand, Bildung und Freiheit für alle!“
Inzwischen kämpft Mathilde also nicht nur für Frauen, sondern für alle. Gleichgesinnte Männer sind für sie durchaus Verbündete. Allen voran natürlich ihr zweiter Ehemann Fritz Anneke. 1846 wegen revolutionärer Tätigkeit als Offizier der preußischen Armee in Unehren entlassen, war er im darauffolgenden Jahr Mitbegründer der Kölner Arbeitervereinigung und trat dem „Bund der Kommunisten“ bei. Beide initiieren nun die Neue Kölner Zeitung und setzen sich für unbegrenzte Pressefreiheit ein. Sie begegnen dabei in Köln zwangsläufig auch Marx und Engels, die dort die Neue Rheinische Zeitung leiten und Mathilde besonders geschätzt haben sollen. Bei den Annekes kann die Kenntnis der Schriften der beiden revolutionären Autoren mit Sicherheit vorausgesetzt werden.
Im Juni 1848 wird Fritz Anneke verhaftet und verpasst so einige Monate der Revolution im Knast. Die Anklage lautet: „Komplott zum Umsturz der bestehenden Regierung, zur Erregung eines Bürgerkrieges, zur Verbreitung von Mord und Plünderung über die Stadt Köln.“ Der Andrang des Publikums bei diesem „politischen Tendenz-Prozess“ ist groß, der Vorwurf vernichtend. Gleichzeitig lösen all die zur Sprache gekommenen Denunziationen durch Polizeispitzel allgemeine Empörung aus. Mathilde hat den Ablauf des Prozesses minutiös protokolliert und sparsam kommentiert. Einen Tag vor Weihnachten sprechen die womöglich sympathisierenden Geschworenen Fritz frei.
Heute würde ein Paar derartiger Gesinnung vielleicht für die Rote Hilfe spenden und sich mit systemkritischen Personen unterhalten. Damit wären sie sicher ein Beobachtungsfall für den Verfassungsschutz. Der sie als extremistisch einstufen würde – zumindest in Bayern. Denn sie würden die Verengung des öffentlichen Debattenraums als Gefahr für die Demokratie kritisch kommentieren und sachlich mit Beispielen belegen. Wären sie als Wissenschaftler verbeamtet, bekämen sie vermutlich ein Disziplinarverfahren wegen Kontaktschuld, das mit Entlassung und Aberkennung aller Rentenansprüche drohen würde. Zur Einschüchterung ihrer Professoren-Kollegen und auch der Studenten. (Das ist leider nicht erfunden.)
Doch zurück zu Mathilde, der nicht viel Zeit bleibt, sich über die Freilassung ihres Mannes zu freuen. Der badisch-pfälzische Militäraufstand ist in Vorbereitung, und Fritz wird zum Oberbefehlshaber der 1200 Mann starken Artillerie berufen. Mathilde beschließt, ihm zu folgen. Nicht mit der Waffe in der Hand, aber doch als Kurier – hoch zu Pferde. Ihr Bericht von diesem Feldzug beschreibt anschaulich und detailliert den kämpferischen Enthusiasmus, die erfolgreichen Momente wie die Mängel, Grausamkeiten und Intrigen. Sie will ausdrücklich keine vollständige Kriegsgeschichte dieser letztlich „unglücklichen Volkserhebung“ liefern, sondern nur erzählen, was sie gesehen hat.
Sie fürchtet sich, geschmäht zu werden, als Weib dem Kriegsruf gefolgt zu sein. Darf das ein Weib? Doch nicht der Krieg habe sie gerufen, sondern die Liebe zu dem Mann ihres Herzens. Aber, gesteht sie, auch der „im Kampf des Lebens erzeugte Hass gegen die Tyrannen und Unterdrücker der heiligen Menschenrechte“. Darf das ein Weib, sich auf Hass als ein humanes Gefühl berufen? Später wird Eleanor, die jüngste Marx-Tochter jenen, welche sich dem Studium der menschlichen Natur widmen, über ihren Vater sagen: „Sie werden verstehen, dass er so bitter hassen konnte, nur weil er einer so innigen Liebe fähig war.“ Heute wird Hass als das eigentliche Übel ausnahmslos verdammt, die ihm mitunter zugrunde liegende Tyrannei aber gern verschwiegen.
So ein Krieg ohne Funker, ohne Handy, hat ja aus heutiger Sicht auch was von einem Drôle de guerre. „Sie können mir vielleicht sagen“, fragt die Kurierin Mathilde auf ihrem Pferd einige Eisenbahner, „wo sich das Artilleriekommando aufhält?“ Einer antwortet „in Neustadt“, ein anderer „in Frankenstein“ und ein dritter „bei den Kanonen“. „Wo sind die Kanonen?“ Das weiß keiner so genau. Oft wird wertvolle Zeit vertrödelt. Eines Tages ziehen am Gebirge hin lange Soldaten-Kolonnen – „Schwarz von Preußen“ heißt es in Erwartung des Feindes. Fritz Anneke zögert, in die Reihen zu feuern – wenn es die eigenen sind? Der Unterschied in den Uniformen beider Seiten war nicht groß. Hoho, höhnt es, solche Truppenmacht die unsrige? Kein Fernrohr da, die Sache aufzuklären. Schließlich bringen seine Adjutanten die fliegende Botschaft, es sei das ersehnte Blenkersche Corps, die Verbündeten, mit Gewehren und Sensen bewaffnet.
Aber es bleibt hart. Was für Umstände freiwillig in Kauf genommen wurden, um die Welt zu verbessern. Oft kommt die Truppe in später Nacht irgendwo an, die Gasthöfe schon überfüllt, sie leiden Hunger und Durst. Das Frühstück besteht aus einem Trunk klaren Wassers am Brunnen. Mathilde wird Zeugin brutaler Misshandlungen vermeintlicher Verräter, wird selbst Opfer von Zeitungsenten, die sie lächerlich machen, verflucht den mit dem Hof und der Bourgeoisie stets liebäugelnden Brentano, der an der Spitze der provisorischen Regierung in Baden nichts unternimmt, ihnen die nötigsten Waffen und Munition zukommen zu lassen, so dass auch sie zu Sensen greifen müssen.
An der Rheinbrücke zu Knielingen treffen sie auf das verbündete Willichsche Corps, dessen Adjutant Friedrich Engels ist. Dieser setzt sich erfreut neben Mathilde Anneke, aber berichtet Unerfreuliches vom gestrigen Gefecht im Annweiler Tal mit schweren Verlusten. Sie schwärmt von Engels als „geistreichen Schriftsteller, scharfen Denker und schonungslosen Kritiker“, aber auch als mutigen Kämpfer, der z.B. in Ermangelung eines Pferdes tagelang seine Adjutantendienste zu Fuß erledigte.
Mathilde beschreibt Augenblicke des Schauderns, das Verhalten von Memmen, ausreißende Offiziere, den Wirrwarr an allen Ecken, der durch das konterrevolutionäre Verhalten Brentanos ausbricht. „Es war zu spät!“ Die entscheidende Schlacht bei Rastatt geht am 30. Juni verloren. Die Annekes fliehen zu Pferde über Strasburg in die Schweiz. Und bald, wie Zehntausende 48er, in die USA.
Dort gibt es bei der Einreise kein Formular, wie es mir Anfang der 1990er auf dem Flug nach Boston die Stewardess überreichte: Haben Sie eine geistige Störung? Ja oder Nein? Bin ich je verhaftet worden wegen eines Vergehens, verbunden mit moralischer Verworfenheit? Suche ich Eintritt, um unmoralische Aktivitäten zu begehen? War oder bin ich mit Völkermord beschäftigt? Die US-Behörden interessierte es 1851 wenig, dass Fritz Anneke zu Hause in Abwesenheit wegen „Beteiligung am Aufstand“ zum Tode verurteilt worden war.
Mathilde wird sehr schnell zu einer führenden revolutionären Kämpferin nicht nur gegen die Sklaverei und für Frauenrechte. Sie hat zu Hause ihre Lektion gelernt. Auf einem Vortrag 1852 in Louisville verblüfft sie vermutlich ihre Zuhörer: Nur durch „wahre Demokratie“ könne sich die Menschheit aus ihrem verderbten Zustand regenerieren. Und die unverbrauchte Kraft dafür fände sich einzig „im Bunde des befreiten Proletariats mit dem befreiten Weibe“. Ein emanzipatorisches Bündnis zwischen Prekariern und Feministen – das wäre auch heute noch revolutionär.
Im selben Jahr zieht Friedrich Engels in London mit seinen Artikeln zu „Revolution und Konterrevolution in Deutschland“ eine Bilanz des Märzaufstandes. Jener Revolution, die für die veralteten Gesellschaftssysteme Europas eine geschichtliche Notwendigkeit geworden sei. Die Einberufung der Frankfurter Nationalversammlung durch die engagierten Volksmassen war das sichtbare Zeichen, dass in Deutschland tatsächlich eine Revolution stattgefunden hatte. Die offenen Feindseligkeiten der feudalen Landesregierungen hatten seiner Meinung nach eine Entscheidung durch Waffengewalt unvermeidlich gemacht. In Dresden verjagte das Volk den König. In Rheinpreußen und Westfalen bewaffnete sich die Landwehr zum Schutz der Reichsverfassung. In Württemberg zwang das Volk den König, die Reichsverfassung anzuerkennen, und in Baden zwang die Armee im Verein mit den Landarbeitern und denen der Städte den Großherzog zur Flucht. Es galt vor allem Preußen zu bezwingen, und die dortigen revolutionären Sympathisanten berechtigten zu begründeten Hoffnungen.
Doch die Hoffnungen trogen. Schließlich standen den geschulten Regierungssoldaten nur ein Viertel so viele aus ungeübten Aufgeboten gegenüber. Engels beklagt, dass es den Aufständigen vor allem an Kühnheit gefehlt habe. Die sogenannte demokratische Partei der Kleinbürger, also der führenden Klasse des Maiaufstandes, habe oft versprochen, sich für die Freiheit zu opfern, war aber in der Stunde der Gefahr nirgends zu finden. Ihr wäre niemals wohler gewesen als nach einer Niederlage, wenn die Sache wenigstens erledigt war. Die Vertreter der deutschen Spießbürgergesellschaft seien zu nichts anderem fähig, als jede Bewegung zugrunde zu richten, die sich ihren Händen anvertraut. Aber auch die Vertreter der Nationalversammlung hätten es versäumt, alle Fürsten, die es wagen sollten, sich dem souveränen, von seinen Beauftragten vertretenen Volk zu widersetzen, für vogelfrei zu erklären. Sie parlierten und protestierten, hatten aber nicht den Mut, zu handeln, und verloren so ihr Ansehen. Als die Dinge auch an der Front eine ernste Wendung nahmen, wären die Studenten die ersten gewesen, die fahnenflüchtig wurden. Der Mangel an Entschlossenheit und Taktik habe den Aufstand zum Scheitern verurteilt. „Die erste deutsche Revolution war zu Ende“
Über vierzig Jahre später, 1895, im Jahre seines Todes, bekennt Friedrich Engels in einer seiner letzten Schriften[1]: „Die Geschichte hat uns Unrecht gegeben.“ Es sei eine Illusion gewesen anzunehmen, es würde eine lange revolutionäre Periode bevorstehen mit einem siegreichen Proletariat. Die soziale Umgestaltung sei nicht „durch einfache Überrumpelung“ zu erobern, der Stand der ökonomischen Entwicklung für die Beseitigung der alten Ordnung bei weitem noch nicht reif gewesen. Die industrielle Revolution hätte erst Klarheit schaffen müssen. Sie habe die Bourgeoisie und das Proletariat erzeugt, dass jetzt durch das allgemeine Wahlrecht seine Kräfte messe.
„Und so geschah es, dass Bourgeoisie und Regierung dahin kamen, sich weit mehr zu fürchten vor der gesetzlichen als vor der ungesetzlichen Aktion der Arbeiterpartei, vor den Erfolgen der Wahl als vor denen der Rebellion.“ Zumal die Rebellion alten Stils, die Straßenkämpfe, überholt seien. Die neuen Perkussionsgranaten und Dynamitpatronen würden die besten Barrikaden zertrümmern. Und die seit 1848 in den großen Städten angelegten, langen, breiten Straßen seien wie gemacht für die Wirkung der neuen Geschütze. Die Bedingungen des Klassenkampfes hätten sich verändert.
„Die Ironie der Weltgeschichte stellt alles auf den Kopf. Wir, die ´Revolutionäre´, die ´Umstürzler´, wir gedeihen weit besser bei den gesetzlichen Mitteln als bei den ungesetzlichen und dem Umsturz.“ Es bedürfe nun einer ausdauernden Arbeit durch Propaganda und parlamentarischer Tätigkeit, um das „Recht auf Revolution“ durchzusetzen.
Eine Weile sah es so aus, als hätte Engels mit seiner Prognose diesmal Recht. Die Monarchie wurde gestürzt, ein Großteil der Freiheitsforderungen der 48er ließ sich, zumindest formal, auf parlamentarischem Wege durchsetzen. Doch die Gegenseite war auch nicht faul, um mit ihrer Propaganda und Lobbytätigkeit das „Recht auf Revolution“ zu beschränken. Hauptaufgabe des Staates im Kapitalismus war immer der Erhalt der Eigentumsordnung. Die subversivsten Forderungen der 48er sind daher unerfüllt geblieben: Ausgleich des Missverhältnisses zwischen Kapital und Arbeit, eine gerechte Besteuerung, Gesetzgebung und Verwaltung durch das Volk, statt Vorherrschaft der Beamten Selbstregierung des Volkes, Friede mit allen Völkern.
Das Hauptversprechen der Demokratie als Volksherrschaft, die allen Bürgern Teilhabe verspricht, wird zunehmend und besorgniserregend als unerfüllt empfunden. Und dennoch muss man sich in den Parlamenten nicht mehr vor linken Revolutionären fürchten, sondern vor weiterem Rechtsruck. „Die Ironie der Weltgeschichte“ stellt immer noch alles auf den Kopf. Mathilde Annekes Stimme verdient anhaltend Gehör: Auf denn, ihr Schwestern und Brüder!
1 Friedrich Engels: Einleitung zu Karl Marx´ „Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850“, MEW Bd. 22.
Werft den hohlen Flitter des Putzes und der Eitelkeit ab und schafft, dass Euch der Mann um dessentwillen liebt, was Ihr seid. Protestiert im Namen der Gerechtigkeit was gegen das Almosen der glatten Konvenienz, mit welchem euch der Mann um eure geistigen und gesellschaftlichen Rechte betrügen will. Verlangt endlich, dass man Euch nicht mutwillig von Eurer Pflicht abscheide, indem man euch tausendmal an der Arbeit verhindert, für die er nicht minder als der Mann geschaffen seid! Und hier ist es am Platze, der wahren Demokratie eine ernste Wahrheit ins Gedächtnis zu rufen. Männer des Fortschritts und der Revolution! Jahrhundertelang habt Ihr Euren treusten Verbündeten verkannt. Nur durch eine neue, unverbrauchte Kraft kann sich die Menschheit aus ihrem verderbten Zustand regenerieren. Diese Kraft, Ihr findet sie einzig im Bunde des befreiten Proletariats mit dem befreiten Weibe. Den Arbeiter habt Ihr endlich erkannt. Jubelnd habt Ihr ihn auf den Kampfplätzen der Menschheit begrüßt – aber das Weib, das freie Weib, die Mutter der Gesellschaft, treibt ihr noch mit Spott in das Feindeslager zurück, wenn es sich mit klarbewusster Begeisterung als Bundesgenossin darbietet. Wieder ein treues Herz, wieder ein hoher Geist tritt zu Euch her. Wollt Ihr abermals den Schmerzen des gefesselten Weibes euch verstocken? Sollen Euch jeden französischen Proletarier beschämen, die auf ihren traurigen Mansarden zur Hymne der Versöhnung entflammten und das Weib zum Kampf riefen, wenn es nicht von selber kam. Weiterlesen
Männer der Zukunft, reicht dieser Frau eure Bruderhand, unterstützt ihre Mission, wirkt in Euren Versammlungen für die Rechte der Frauen, erkennt sie als Eure natürlichste und stärkste Bundesgenossin an! Ihr Frauen, tretet zusammen zu Vereinen, opponiert gegen Eure Knechtschaft, macht Eure Schwestern frei, indem Ihr sie aufklärt über ihre Pflichten und ihre Rechte. Verbreitet die „Frauenzeitung“ und schafft Euch ein Organ nach dem anderen, das Eure Forderungen kühn und würdig vertritt.
(Vortrag, gehalten in Louisville/Kentucky im Oktober 1852, zitiert nach einem Bericht von Amalie Struve in der „Freien Presse“ in Louisville vom 23. Oktober 1852; hier zitiert nach: Manfred Gebhardt, Mathilde Franziska Anneke, Verlag Neues Leben, Berlin 1988, S. 166f.)
Wir hatten des andern morgens zeitig unseren großen Marsch auf den Rhein fortgesetzt. Das Heer schien mir mit jedem weiteren Vorrücken anzuwachsen. Als wir uns der Rheinbrücke zu Knielingen näherten, stieß das Willichsche Corps wieder zu uns. Willich¹ selbst begrüßte uns unmittelbar am Ufer, bevor wir über den Strom gingen. Heute sah er so bekümmert aus und so still – auch ritt er nicht, wie am Tage vorher, sein schönes weißes Ross. Warum die Veränderung an ihm? hätte ich fragen mögen, doch man wird auf Kriegszügen so sehr daran gewöhnt, sich um dieses Wörtchen gar nicht mehr zu kümmern. Die ungenügenden Antworten, die meinen Fragen bisweilen zuteilgeworden waren, klangen mir fast so ungenügend wie in der Mondschein Poesie jenes: „Das warum wird offenbar, wenn die Toten auferstehen.“ Weiterlesen
Vor der Brücke wurde von dem ganzen Heer ein großer Halt gemacht, mit seinem Übergang nahm es ja Abschied vom pfälzischen Boden. Jenseits trat es auf badisches Gebiet. Ein großer Teil reguläres badisches Militär stand dort schon wie zum Empfang der Pfälzer Division bereit; es präsentierte sich in glänzenden Uniformen, die einen seltenen Kontrast gegen unsere blauen Blousen bildeten. Fast weiß ich nicht zu sagen, ob ich diesen nicht den Vorzug hätte geben mögen; lag doch in der dunklen Tracht der Charakter unseres Kampfes angedeutet, während mir in denjenigen der großherzoglichen, buntscheckigen Livreejacken das Gemisch von Meinungen dieser Kämpfer bezeichnet wurde. So zum Beispiel stach wie eine hohnlächelnde Ironie auf die badische Bewegung das gelbe messingne auf den Helmen und Schabraken, das den Namen des entflohenen Großherzogs Leopold bedeutete, mir grell in die Augen. Freilich mochten viele in dem Heer sein, die mit dem kühnen Artillerie-Wachtmeister Hofer die tadelnden Bemerkungen, dass man diese Embleme noch trüge, erwidern konnten, „die äußeren Zeichen täten es eben nicht“, allein, ich glaube, dass dem Dinge eine nicht wegzuleugnende Absicht des mit dem Hofe und der Bourgeoisie stets liebäugelnden Brentanos2 zugrunde lag. (…)
Während das badische Rheinufer unter Annekes Befehl von mehreren Kanonen besetzt, die Brücke abgefahren wurde, um den Preußen hier den Übergang zu wehren, nahm ich Veranlassung, die verschiedenen Stimmungen in den verschiedenen Truppen des pfälzischen und badischen Heeres zu beobachten. Ich ritt, während die Anordnungen zur Verteidigung getroffen wurden, längst dem Ufer und wurde von einer Gruppe badischer Soldaten mit ungeziemenden Redensarten beleidigt. Absichtlich blieb ich eine Weile in der Nähe dieser jungen Leute, unbesorgt, mich einem frechen Gespött auszusetzen. Da trat ein junger, wohlgebildeter Mann, in der Uniform eines Badensers, an mich heran und sagte mit vieler Bescheidenheit, er wünsche meinen Namen zu wissen. Ich nannte mich ihm. Wir seien ihm nicht unbekannt, behauptete er, und er freue sich, eine wackere Frau mit in den Kämpferreihen zu finden. Das Lob dieses schlichten Jungen war mir Genugtuung für jene Umbilden, und ich nahm in diesem Augenblick Veranlassung, die aufmerksam und still gewordene Gruppe der übermütigen Burschen ein wenig zu strafen.
„Sie freuen sich“, antwortete ich mit sehr nachdrücklicher Stimme, zu jenen hingewandt, „und doch scheinen diese jungen Streiter nicht zu bedenken, wie groß, wie ernst und heilig die Sache ist, für die sie eben in den Kampf gehen wollen. Wussten sie‘s noch nicht, so konnten sie‘s durchaus begreifen lernen, dass eben Frauen sich dem Streit beigesellen. Blicken Sie hinüber in die Reihen ihrer Feinde, ob dort ein Weib ihrem Manne gefolgt ist, in der Absicht, wie ich dem meinigen folge. Ich glaube, Sie werden keine finden; keine Frau wird an einem unheiligen und schlechten Werk teilnehmen und ihr Leben dafür einsetzen. Das hätten die jungen Leute bedenken sollen, ehe sie über mich spotteten.“ Kaum hatte ich die letzten Worte gesprochen, als sie alle, einer nach dem anderen, nähertraten, mir die Hände reichten und baten: Ich möge ihnen ihre Unart nicht übelnehmen. Das hatte ich ja auch nicht getan, ich begrüßte sie daher freundlich als Kampfgenossen in unserem heiligen Streit und sagte ihnen, dass ich zwar keine Waffen führe und wohl auch keinen Preußen töten könnte, dass ich mich aber doch nützlich machen würde, wo es der Augenblick erheische.
Als ich längst der Kolonne ritt, ließen sie mich hochleben; inzwischen kam Willich; er beredete mich, in einem an der Brücke gelegenen Gasthaus einer Erquickung zu nehmen. Er übergab mein Pferd einem Kameraden und führte mich dahin. In einem großen Zimmer saßen um einen Tisch Teile von seinem Corps versammelt. Willich sagte ihnen, wer ich sei, und so gesellten wir uns zu den ermüdeten Brüdern. Sie tranken Wein aus großen Kelchgläsern; wir wurden mit ihrem Geläute bewillkomt. Aber – „es scheuchte sie alle ein trüber Gedanke vom blinkenden Wein, tief in die Melancholie.“
„Mathilde!“ hob Willich mit seinem eigentümlichen Pathos an, „mir ist, als möcht‘ ich mich heute ins Grab legen.“
Er wollte mir eben auf meine dringende Frage antworten, da wird er abgerufen. Engels3, der Adjutant bei ihm war, nahm seinen Stuhl neben mir ein. Durch ihn erfuhr ich, wie das gestrige Gefecht im Annweiler Tal einen so unglücklichen Ausgang genommen habe, wie dort einer der liebsten Brüder Willichs gefallen, wie er diesen während des Sterbens an sein väterliches Herz gedrückt und wie er ihn als Leiche dann zurückgelassen habe, um sich wieder von Neuem in den Kampf zu stürzen. Zum Gegensatz dieser Weichheit habe er eine solche Verwegenheit gezeigt, dass, als ihn bereits sein weißes Ross unter dem Leibe erschossen sei, man ihm zugerufen habe. „Willich! Wenn Du uns weiter gehst, schießen wir auf dich.“
Der ganze Plan, der Willich gestern von uns hinweg geführt hatte, war mit diesem unglücklichen Gefecht gescheitert. Willich wollte nämlich die Offensive ergreifen, und zwar in Preußen einfallen. Der Feind aber hatte bereits die Grenzen besetzt, und unsere Kämpfer konnten nicht mehr durchdringen; sie stießen daher schon im Tal bei Annweiler auf hartnäckigen Widerstand, der uns schwere Verluste kostete. Wieviel indes mit der glücklichen Ausführung des Plans erreicht worden wäre, das hatten wir zu sehen gehabt. Jedenfalls würde Herr Brentano eine Beschämung mehr gehabt haben, denn dass er es war, der zum Unglück der badisch-pfälzischen Revolution zu verhindern gesucht hat, die benachbarten Länder Preußen, Württemberg, Hessen mitzuinsurgieren, indem zeitig, vor dem Einmarsch der Feinde, von unseren Truppen kräftigst die Offensive dahin musste ergriffen werden, das ist eine unwiderlegbare Tatsache. Ich weiß, wie Rheinpreußen auf ein solches Befreiungsheer gehofft und geharrt hat. – Und kam es nun gar, an seiner Spitze Willich, dessen Name gleichsam zum Symbol geworden war! – ich bin überzeugt, zur Lawine würde das Heer sich fortgewälzt haben, bis in das Innerste unseres Landes hinein. Nun war es zu spät!
Das Urteil Engels über die Erhebung Badens und der Pfalz hatte ich nicht mehr Gelegenheit, aus seinem Munde zu hören. Es wäre mir interessant gewesen, von dem Redakteur der eben zu Grabe getragenen „Neuen Rheinischen Zeitung“, welcher gerade in seinen Prognosen der Revolution in den verschiedenen Ländern so geistvoll sich geäußert hatte, auch hier eine solche gestellt zu sehen. Ich hatte von ihm weiter nichts als die Überzeugung gewonnen, dass ein geistreicher Schriftsteller, ein scharfer Denker und schonungsloser Kritiker auch ein guter Kämpfer in den Reihen sein könne. Sein Eifer und sein Mut wurden von seinen Kampfgenossen ungemein lobend hervorgehoben, so z. B. hat er tagelang in Ermangelung eines Pferdes seine Adjutantendienste zu Fuß verrichtet.
*
Es war Abend geworden, wir rückten mit unserem Generalstab und einem großen Teil unseres Heeres nach Karlsruhe in die Quartiere. In dieser ehemaligen großherzoglichen Residenz herrschte eine sonderbare Stimmung, die uns gerade nicht den freundlichsten Empfang von den Einwohnern, wie wir‘s bisher in der Pfalz, dem Land des süßen Weins und der Gemütlichkeit, gewohnt waren, bereitete. Wir wunderten uns übrigens durchaus nicht über diese Art von Gastlichkeit, kannten wir doch gar zu gut den bösen Dämon, der hier hinter allen Wänden lauerte, und den Geist, der über diese Stadt herrschte.
Wir waren mit dem ganzen Generalstab in einem Hotel am Marktplatz abgestiegen. Hier besuchte mich eines morgens Kinkel4. Ich hatte ihm noch Briefe von seiner Frau zu übergeben und Grüße zu bringen, die sie mir auf meiner Rheinfahrt an der Anhaltsbrücke zu Bonn mit einer so unendlich schmerzlichen Mine, wie ich sie nie vergessen werde, für ihn aufgetragen hatte. Ich fand ihn ziemlich heiter und trübte seine Stimmung keineswegs durch unnötige Mitteilungen. Er sprach mir seinen Entschluss aus, dass er die Muskete in die Hand nehmen wolle und sich sogleich unter die schwarze Fahne, die uns gerade vor unserem Fenster aus den Reihen der Willichschen Kämpfer ernst entgegenwehte, begeben wolle. Ich meinte, Kinkel, der eine so überwiegende Macht durch sein persönliches Auftreten, durch seine Rednerkraft auf die Massen ausübte, – ich meinte, Kinkel habe seine Aufgabe ganz und gar verkannt. Er musste der Agitator im Heer sein – und bleiben. O, es tat große Not, unsere kampfungewohnten Jünglinge an den Vorabenden einer Schlacht mit Mut zu entflammen, ihnen den hohen Preis der Freiheit vorzuhalten, für welche sie ihre Brust den Kugeln darböten. Gottfried Kinkel hatte den Beruf eines Thomas Münzer. Aber es mochte sein, dass er der vielen Worte müd‘ war und seine Tatenlust und Kampfbegierde ihn hieß „mit einhauen“. Er nahm Abschied von mir, um sich sogleich da unten als Wehrmann in die Kompanie des Willichschen Corps, „Besancon“ genannt, aufnehmen zu lassen. Willich begrüßte ihn mit Handschlag. Die Brüder empfingen ihn mit jubelndem Hochruf.
Aus dem badischen Hauptquartier war von dem Oberbefehlshaber Mieroslawski durch mehrere Ordonnanzen, an die General der pfälzischen Division, der Befehl gekommen, Anneke solle sich unverzüglich zu ihm nach Heidelberg begeben, um als Kommandant der badischen Artillerie und zugleich als Generaladjutant Mieroslawskis ihm bei einem Haupttreffen zur Seite zu sein. Dieser Befehl ward ihm nicht eröffnet, was der General Sznaide für eine Absicht dabei hatte, ist uns nicht bekannt geworden, erst nach abermaliger Wiederholung solchen Befehls gelangte er an Anneke. Schleunigst wurde unsere Abreise festgesetzt; als wir indes die Eisenbahn besteigen wollten, waren die Züge unterbrochen, wir konnten nicht mehr zu dem Ort der Bestimmung gelangen. Der Kampf musste bereits heiß entbrannt sein. Es blieb uns nichts anderes übrig, als zur Unterstützung der Hauptmacht in dieser Schlacht mit den in Karlsruhe liegenden Truppen und mit dem sich dort befindenden Kriegsmaterial unter Befehl des General Sznaide noch an demselben Abend aufzubrechen. Es wehte eine laue Nachtluft. Anneke führte selbst die bedeutende verstärkte Artillerie; das dumpfe Gerassel der vielen Geschütze, das feierliche Schweigen eines sich fortwälzenden Heeres auf engen Wegen durch Wälder und Felder, hatte etwas ungemein Eindrucksvolles. Dazu kam hier die Bereitwilligkeit unserer Wegführer, der braven einheimischen Landsleute, dass sie mit Pechkränzen und Fackeln uns den Weg beleuchteten. Einige Ordonnanzen, die ich in dieser Nacht zu dem sich vor uns bewegenden Infanterie-Kommandeurs zu reiten hatte, machten mir die Sache noch interessanter. Vor Mitternacht erreichten wir so das Örtchen Blankenloch. Hier wurde von Gros Halt gemacht, nur Willich wurde mit seinem Corps und zwei Kanonen nach Spöck, eine Stunde weiter, vorgeschoben, dort vorkommenden Falls einen Angriff zu machen. Unsere Krieger hatten bereits ihre Glieder auf das blanke Pflaster des Städtchens ausgestreckt; wir hingen noch auf den Pferden; die Einwohner schauten, aus ihrem ersten Schlaf geweckt, aus allen Fenstern ihrer kleinen Hütten heraus. Der Anblick dieser Kriegsrüstungen da so unmittelbar vor ihren Türen mochte ihnen keinen geringen Schrecken eingejagt haben. Als ich ein Wirtshaus öffnete, fanden wir es ratsam, der frisch wehenden Nachtluft jetzt ein wenig auszuweichen und uns eine kleine Labung mit einem Stückchen Brot und etwas Schnaps angedeihen zu lassen. Auf dem Boden des Gastzimmers lagen bereits mehrere Kampfgenossen im süßen Schlummer. Das Beispiel war ansteckend. Ich fing auch bald an, auf meinem Sitz einzunicken. So mochte ich denn etwa eine Stunde in einer unbequemen Situation geschlafen haben, als ich plötzlich sehr hastig geweckt wurde. Anneke winkte mich schleunigst hinaus, „an die Pferde, aufgesessen!“ Diesmal ließ er mich wenigstens den Grund der Eile wissen, er flüsterte mir nämlich beim Aufsteigen zu: Eben sei dem Generalstab Meldung von Willichs gänzlicher Vernichtung bei dem nächtlichen Gefecht gekommen, die Kanonen seien eine Beute des Feindes geworden, und so hieß es denn nun für uns „ins Feuer!“ Ich hatte wahres Zähneklappern vor Kälte bei diesem Morgengruß. Wir setzten uns rasch in Bewegung in der Richtung zum Kampfplatz. Ein herrliches Tal lag im aufsteigenden Morgennebel vor uns.
„Wir reiten still, wir reiten stumm,
Wir reiten in’s Verderben.“
Das war ein Morgengebet in stoischer Ergebung. Einige Verstreute, auch einige Verwundete, kamen uns schon entgegen. Ihre Berichte lauteten entweder: „das Tal ist schwarz von Pulverdampf“, oder „es ist schwarz von Preußen“. Diese Stereotype wollten mir fast schon meinen Humor wieder bringen, da auf einmal erblicken wir Willich, ihn selbst mit seinen Adjutanten. Also, er lebte doch noch, woran wir schon zweifeln mussten. Wie verkehrte sich da plötzlich unsere Sorgen in Freude. Falsche Nachrichten waren von einigen feigen Ausreißern überbracht worden. Die Kanonen waren nichts weniger als erobert, die hatten sich leider gar zu zeitig aus dem Staub gemacht, und zwar wurde behauptet, die Pferde seien scheu geworden und hätten eine gewaltige Unordnung unter den streitenden Kämpfern hervorgebracht; allerdings war der Fuhrsoldat durch die Flucht der Tiere getötet, übrigens waren die Verluste nicht groß, und die feindlichen Vorposten waren zurückgewichen.
*
(…) Anneke hatte mit dem Generalstab, der in Blankenloch zurückgeblieben war, Unterhandlungen über das Vorrücken der Truppen gepflogen. Er war entschieden dieser Ansicht und glaubte Mieroslawski bei der Schlacht unterstützen zu können, die nach dem Schall des Kanonendonners heftig entbrannt sein musste – während der General Sznaide, der ohne Befehl des Obergenerals, und zudem über die Stellung der Preußen und Kenntnis geblieben war, dies nicht unternehmen wollte.
Um über diesen letzten Zweifel ins Klare zu kommen, ordnet der Anneke einen Rekognoszierungszug an. In Begleitung eines Detachements badischer Dragoner verließen Annike und ich am Nachmittag das Lager, um unseren feindlichen Landsleuten einmal mit eigenen Augen auf die Spur zu kommen. Bis jetzt hatte ich noch keine Pickelhauben wiedergesehen, und da unser Ritt auf mehrere Stunden weit ausgedehnt werden sollte, ließ sich erwarten, dass uns die Freude noch vor Abend zuteilwürde. Wir versahen uns daher mit guter Schusswaffe zur Verteidigung unserer Personen und ritten ab. Aber wie weit wir auch ritten, überall ergab es sich auf die Erkundigungen Annekes, dass feindliche Truppen uns mehrere Stunden voraus in der Richtung nach Heidelberg gezogen waren. Wenn wir also, statt länger müßig im Lager zu liegen, aufbrachen, so kamen wir vielleicht noch zeitig zu dem Haupttreffen, das vor uns stattfinden musste, und gewannen vielleicht eine glückliche Stellung im Rücken des Feindes. Anneke sandte mit dem Resultat der Rekognoszierung reitende Ordonnanzen in das Hauptquartier ab. Dies hatte zur Folge, dass erst mit nächstem Tagesanbruch aus dem Lager aufgebrochen und dem Feind nachgerückt wurde. Der Abend neigte sich bereits, als wir wieder in unser fröhliches Lager einkehrten; zu gleicher Zeit traf auch der Generalstab ein. Auf der Wiese lag Stroh ausgebreitet, auf der Menschen und Pferde sich nebeneinander betteten. Selbst unser alter General wollte im Tau der Nacht sich für die Strapazen der folgenden Tage stärken. Die Sorgfalt der Kameraden hatte inzwischen für mich wieder das Beste ausgedacht. Sie hatten mir zur Ruhe für die Nacht ein Laubzelt gebaut, so dicht und fest, dass kein Lüftchen durch dasselbe wehte. (…)
*
Der Morgen dämmerte erst eben, als ich aus meinem Zelt heraustrat. Wir mussten ja zeitig aufsitzen, da wir in die Schlacht ziehen wollte. Anneke hatte den Befehl, die Avantgarde zu führen; er ließ Reveille schlagen, um bald loszurücken. Der Marsch geschah auf Bruchsal. Als wir uns den Stadttoren näherten, glaubten wir, preußisches Militär zu erblicken. Unsere Spitze (d. h. eine gewisse Anzahl Truppen, die zunächst auf den Angriff bereit ist) wurde vorgeschoben; wir folgten ihr unmittelbar. Das Gros indes, bei welchem sich der Generalstab befand, blieb in dem Wald, eine Stunde von der Stadt entfernt, ein wenig zurück. Unsere Enttäuschung verkehrte alsbald wieder feindliches preußisches Militär in unser befreundetes badisches. Der Unterschied in den Uniformen dieser Truppen war nämlich nicht groß und erstreckte sich auf einige Litzchen mehr oder weniger. Eine führte die Avantgarde also nicht nur ohne Widerstand des Feindes, sondern unter freundlichen Empfangsgrüßen der Freunde in die Stadttore von Bruchsal ein. Ich bekam die Weisung, dem Generalstab Meldung zu machen. Ich tat das und wurde mit Lächeln, das plötzlich von einigen ängstlichen Gesichtern strahlte, empfangen. Als ich, meines Auftrags entledigt, im ruhigen Schritt zurücktritt, flogen Ordonnanzen mir voran, die auf den Schrecken hin ein gutes Frühstück in Bruchsal bestellen mussten.
Nach einem kurzen Aufenthalt hier wurde Anneke mit seiner Avantgarde von etwa 600 Mann bis Ubstadt vorgeschoben. Willich deckte unseren rechten Flügel. Wir ritten zu gleicher Zeit aus den Toren der Stadt. Sein Corps erwartete ihn hier. Bei seinem Anblick schwenkten die Brüder (anders pflegte er seine Leute nicht zu nennen) ihre Hütchen und riefen ihm entgegen: „Willich soll leben!“ – „Und mit euch sterben“, war seine Antwort.
Inzwischen liefen trübselige Nachrichten von vielen Seiten über die verlor‘ne Schlacht Mieroslawski‘s ein; sie gewann an Wahrscheinlichkeit sehr durch die gleichlautenden Mitteilungen. Anneke sah seine Position für sehr bedenklich an. Er ritt selbst hinaus, die Vorposten sicherzustellen und wartete jeden Augenblick auf Verwaltungsbefehle vom Generalstab. Man musste annehmen, dass dieser doch bereits von der Stellung des Hauptheeres unter Mieroslawski‘s Oberbefehl definitive Kenntnis erhalten habe. Die Dunkelheit der Nacht brach an, sie verging auch wieder, ohne dass ein Befehl gekommen wäre. Umso eifriger langten Botschaften aus den umliegenden Orten an Anneke an; hiernach war Mieroslawski gänzlich geschlagen, mit seinem Heer auf der Flucht durch die Gebirge begriffen, die Preußen rückten in unabsehbaren Massen auf der Hauptstraße heran, und ihre Spitzen hatten bald unser kleines Örtchen erreicht. Unsere Vorposten machten ähnlich lautende Meldungen. Hier in dieser Stellung mussten wir also bald erdrückt werden. Anneke wollte die Verantwortung eines passiven Widerstandes nicht auf sich nehmen, er berief also die obersten Führer der Avantgarde zu einem Kriegsrat zusammen, machte sie mit den über Nacht eingelaufenen Botschaften bekannt, sagte, dass er vergebens auf Verhaltungsbefehle vom Generalstab harre, der Augenblick aber so dringlich sei, dass nunmehr ein längeres Warten nicht ratsam erschiene, sondern ein Herausziehen aus solch ungünstiger Position, selbst auch ohne Befehl, notwendig. Im Kriegsrat erklärte man sich vollkommen einverstanden, und es wurde nur noch die Maßregel beschlossen, reitende Ordonnanzen mit fliegender Eile ins Hauptquartier mit der Meldung zu senden, dass bei der Lage der Dinge, wenn mittlerweile nicht ein anderer Befehl eintreffe, die Avantgarde den Rückzug aus Bruchsal antreten werde. Es mochte während all diese Operationen vielleicht fünf Uhr geworden sein, der Kriegsrat wurde aufgehoben, und Willich trat ein. Auch er war noch in gänzlicher Unkenntnis über den Stand der Sache. Seit mehreren Stunden schon waren unsere Leute auf den Beinen. Es hieß jetzt „Aufgesessen“. Da endlich langte der definitive, längst ersehnte Befehl zur Verteidigung des Dorfes an. Anneke traf seine Positionen. Da der Ordonnanzen jetzt für mich und den Adjutanten zu viel wurden und ein junger Berittener sich zur Disposition erklärte, wurde derselbe als zweiter Adjutant angestellt; er hatte ein rasches Pferd und war ein kräftiger Mann, der in diesem Augenblick zustattenkam. An den Eingängen des Dorfes wurden Barrikaden aufgeworfen, und diese Zurüstungen setzten die armen Bewohner in die furchtbarste Angst; ach Gott, wie liefen da meine alten Mütterchen von gestern verzweifelt umher, die Hände über den Kopf zusammenschlagend, flüchteten sie alle zu mir, als könnte ich ihnen sagen, welche Gefahr ihren Hüttchen, ihrem Leben drohe. Was konnte ich ihnen für Trost geben, was hätte ich ihnen raten können! Ich befand mich mitten in den Schrecken des Krieges, ohne ein einziges Angstgefühl für mich, nicht aber ohne das tiefste Mitleiden um diese Armen da zu haben. Willich war mit uns auf die das Dorf umschließende Höhen geritten, welche zur Verteidigung mit den Geschützten besetzt werden sollte. Gerade in dem Augenblick, als wir von hier aus in den Ebenen in dem ersten Sonnenstrahl die blitzenden Helme unserer feindlichen Landsleute erblicken, ereilt uns der Befehl zum Vorwärtsrücken, auf den Feind los. Also ging's jetzt wirklich in den Kampf, der Frühmorgen leuchtete in seiner vollen Pracht dazu. Willich nahm mit Handschlag Abschied von uns und eilte zu den Seinen, die eine Stunde seitwärts von uns lagen. Als wir ins Dorf herabkamen, war die Verwirrung hier noch größer geworden. Jetzt konnte ich doch wenigstens die Beruhigung geben, dass, wenn wir schnell fortkämen, der Kampf hoffentlich von ihm ferngehalten würde. In furchtbarer Eile wurden nun auch alle Streitkräfte wieder zusammengezogen und begannen auszurücken. Ich befand mich an der Seite Anneke’s, an der Spitze unserer Gruppe. Wir hatten das Weichbild des Dorfs verlassen, aber noch nicht ganz die erste Höhe erreicht, da unerwartet, wie Blitzstrahlen aus heiterem Himmel, schießen die feindlichen Feuerschlünde auf uns los und senden einen Regen von Spitzkugeln um uns her, mit pfeifendem, unheimlichem Getön.
Nach diesem kurzen Vorspiel, das unsere, im ersten Augenblick verdutzten Tirailleurs5, die uns zu beiden Seiten standen, nur etwas schwach erwiderten, begann der Feind bald mit Kanonen auf uns zu feuern. Das schien unseren Streitern sehr zu imponieren; wir hatten nichts Nötigeres zu tun, als uns dem Kugelregen mit Ruhe und anscheinend Gleichmut auszusetzen und sie zu ermutigen. Viele wollten schon weichen; die Zurede Anneke‘s aber, sie sollten nur fleißig laden und schießen auf unsere Feinde, sogleich auch werde unser schweres Geschütz ihnen aufspielen, feuerte sie an. Ich bekam die Weisung, zwei Berghaubitzen, die nicht fern von uns in der Niederung hielten, heraufzubeordern zu solchem Zweck. Ich sprengte zu dem sie führenden Offizier, hatte ihn aber noch nicht erreicht, als der seine wilde Flucht anzutreten eben im Begriff ist. Ich hole ihn natürlich mit meinem raschen Pferd ein, bewege ihn auch durch eine sehr nachdrückliche Meldung des Befehls zum Umkehren, indes die uns ins Antlitz speienden Zündnadelgewehre machen auf den Feigling solchen Eindruck, dass er nicht voran will. Ich suche ihn zu ermutigen, ich sag ihm auch, er werde augenblicklich erschossen, wenn er in diesem wichtigen Moment den Befehlen nicht Folge leiste – er setzte sich auch zögernd in Bewegung, da aber rückt er in seiner List mit der Lüge heraus: Er habe den Munitionswagen vergessen. Ich erwidere ihm nicht lange, dass hinlängliche Munition im Protzkasten, der sich an der Kanone befindet, sei, sondern sprengte in hastiger Eile zu Anneke zurück und teilte ihm den Vorfall mit. Der reitet schleunigst jetzt zu dem schon wieder mit den Kanonen fliehenden Offizier, setzt ihm die Pistole auf die Brust, und – wollen oder nicht – bringt er ihn rasch ins Feuer.
Jetzt kam für mich einen Augenblick des Schauderns. Links an meiner Seite, etwa vier Schritte entfernt, stand ein Blousenmann, der eifrig seine Büchse lud und mit großer Ruhe anlegte. Eine in diesem Augenblick anschnaubende Kanonenkugel streckte den Kämpfer nieder. Sie hatte ihm das Bein mitgenommen. Lautlos lag der junge Held da am Boden und änderte keine Miene in seinem bleichen Angesicht. Ich wollte ihm beispringen, allein, ich sah bald ein, wie unzulässig das auf diesem Platz sei – umso mehr noch, da die Kameraden ihm bereits so kräftige und gewandte Hilfeleistungen brachten. Diese legten nämlich ihre Gewehre übereinander und machten so eine Tragbare, vermittelst welcher sie den Verwundeten am besten aus dem Getümmel tragen konnte. Das Gefecht hielt sich eine Weile sehr hartnäckig auf dieser Höhe; dann aber mussten unsere Truppen, die nicht mit voller Kraft Stich hielten, sich in das Dorf zurückziehen. Hier bekam ich nun die Sendung zum Generalstab, der sich mit dem Gros auf der Straße von Bruchsal befand; ich sollte ihm ausführlichen Bericht über den Stand des Gefechts machen. In meinem Diensteifer begab ich mich aus dem Kugelregen schleunigst fort. Da kam mir der Argwohn in den Sinn, dass Anneke mich vielleicht absichtlich aus dem Gefecht sende und mich der ihn umgebenden Gefahr nicht mehr aussetzen wolle. Gern wäre ich wieder zurückgeritten und hätte mich geweigert zum Gehorsam, allein bedachte ich wieder, wie wichtig es sei, eine Verstärkung durch die Hauptmacht herbeizuführen –denn das Motiv lag eben meiner Meldung zugrunde –, so spornte ich mein Pferd zur Eile an. (…)
Mittlerweile war der Kampf in Ubstadt selbst heiß entbrannt. Ich hatte jetzt keinen anderen Gedanken mehr, als die Gestalt Annekes im Pulverdampf wieder zu erblicken. Die Toten und Verwundeten, die da am Weichbild des Orts auf den vielen Wagen lagen, machten einen tiefen Eindruck auf mich. Ich versuchte durch die Reserve zu dringen und in die Kämpferreihen zu kommen, woselbst ich Annette zu finden wusste, aber vergebens. (…)
Das Gefecht wurde immer heftiger, einige Bataillons von den unsrigen schlugen sich brav, sie wurden aber auch mit vieler Tapferkeit von ihren Obersten geführt. (…) Das Dorf indes konnte nicht lange gehalten werden. Anneke ließ sich noch immer nicht sehen. Mein Auge stierte lange vergebens in das Gewölk des Pulverdampfes, es fand ihn nicht. Endlich kommt er wohlbehalten heraus, und da er das Terrain zur fernen Aufstellung der Geschütze rekognosziert, gelingt es mir, ihn zu erreichen. Kaum hatten wir uns die Hände gereicht, da brauste auch schon wieder eine Kanonenkugel durch die Dächer von Ubstadt und ließ sich gerade vor unseren Füßen nieder. Anneke verlangte von mir, dass ich zur Reserve zurückritt, ich fügte mich seinen Wünschen, ja, ich sah insofern die Notwendigkeit ein, als mein Pferd abgeritten war. (…)
In der glühenden Sonnenhitze, in einer Staubwolke, wie ich ihresgleichen noch nicht sah, hielt ich mich hinter den Reihen der Kämpfenden auf; der quälende Durst machte mich endlich mobil, um in dieser Wüste nach einem Tropfen Feuchtigkeit zu suchen, ich fand ihn in der beinahe versiegten Flasche unseres Generals. Als wir eine Zeitlang auf der Heerstraße uns befanden, ereignete sich vor uns ein eigentümlicher Vorfall. Ein Detachement preußischer Ulanen sprengte plötzlich durch die Ebene mit solcher Verwegenheit in unsere Reserve hinein, dass diese im ersten Augenblick scheu auseinanderwich. Freilich hätte man nicht anders denken sollen, als diesem Vortrab folgt sogleich ein schweres Kavallerie-Regiment, das uns alle aufreibt. Was war zu tun? Viele unserer Scharfschützen hatten bei dem ersten Vorspringen eine glückliche Position auf einer Anhöhe erreicht. Man ruft ihnen zu: schießt, schießt! Einige Beherzte legen an, sie zielten wacker, denn von den kühnen Reitern sanken mehrere zu Boden. Dem Beispiel folgten die anderen. Sie alle, Mann für Mann, werden von ihren Kugeln hingestreckt – es waren, wie ich höre, 16 an der Zahl, davon der Rittmeister bei der letzten Kugel, die ihm den Kopf zerschmetterte, um Pardon bat. Die schönen Pferde und Fähnlein der Feinde wurden die Kriegsbeute unserer Sieger. Durch die letzten glücklichen Positionen unserer schweren Geschütze gelang es, mit vieler Wirkung unsere Geschosse in die feindlichen Reihen zu senden; nach einem hartnäckig anhaltenden Feuern aus Zwölfpfündern brachte unsere Artillerie das feindliche Geschütz zum Schweigen. Ich begab mich mit dem Generalstab nach Bruchsal zurück. Anneke unterhielt das Gefecht noch mehrere Stunden lang. Ob endlich gegenseitige Ermattung oder der herannahende Abend beide Streitenden zum Zurückweichen brachte, oder ob der Feind hinter uns noch eine kolossale Macht fürchtete, ich weiß es nicht. (…)
Anneke kehrte unversehrt aus dem Kampf nach Bruchsal zurück. Unter den ermüdeten Truppen war die Stimmung wie nach einem glorreichen Sieg.
*
Das Revolutionsheer war bereits an den Ufern der Murg, die längs Rastatt fließt, zusammengezogen. Hier an der Festung gelehnt, sollte es noch eine entscheidende Schlacht schlagen. Die preußische Armee stand bereits vor Rastatt, nachdem der Festung kaum vier Tage Zeit gelassen war, sich in Verteidigungszustand zu setzen. Dazu waren ihre Werke noch im Bau begriffen und an Proviantierung ihrer Magazine nicht gedacht. Die Schlacht in dem Wald vor Rastatt begann am Morgen des 29. Juni. Einige Stunden vor Eröffnung derselben begab ich mich auf die Festungswerke. Dort bekam ich ein Pferd, welches nur einige Ordonnanzritte mit mir aushielt; mein eigenes Pferd sowie die übrigen Dienstpferde waren verschwunden, während wir von dem Heer entfernt gewesen waren. Von den Wällen her hätte man ein imposantes Schauspiel der Schlacht, man sah in die Ebene, deren Halbkreis vor uns, in Flammen, gespien aus tausend Feuerschlünden, lag. Dazu der rollende Kanonendonner, den die Berge hoch in vielfachem Echo zurückgaben.
Diese Kriegsmusik war die mächtigste, die ich je gehört habe; sie begann in ihren volltönenden Akkorden den Mut unserer Kämpfer anzufeuern. Ein Bataillon nach dem anderen sandte man in die lodernde Schlacht. Einige zogen mit Sang und Klang freudig hinein. Der Sieg neigte sich augenscheinlich auf unsere Seite. Der Feind wurde mächtig zurückgeschlagen, sein Verlust war sehr groß, besonders an Offizieren. Ich war auf den Wällen neben den Kanonen sitzen geblieben und hatte nur die Siegesfreude der Unsrigen diesmal geteilt, während Anneke mit Miroslavsky unmittelbar im Feuer außerhalb der Festung stand. Die Festungsartillerie unterstützte von diesem Platz durch einige wirksame Schüsse bisweilen unsere Kämpfer da unten. (…)
Gegen Abend spät war der Sieg im Zentrum und auf dem linken Flügel vollständig unser. In der Stadt loderten Freudenfeuer und Illumination. An Verlusten zählten wir wenig, und unsere Kämpfer kehrten siegesgekrönt für die Nacht zurück. Der folgende Morgen fand alles in erneuter Tätigkeit. Ich bestieg mein altes Pferdchen, das sich wiedergefunden hatte, und tritt schon vor fünf mit Anneke zu den Wällen. Da begegnet uns Beust. Er hatte sich gestern auf dem rechten Flügel bewegt. Seine Miene passte keineswegs zu der allgemeinen Siegesfreude. Ach, und seine Mitteilungen bildeten erst recht grell den Kontrast. Der Feind hatte einen Flankenmarsch durch württembergisches Terrain zu bewältigen Stelligen gewusst, war unserem rechten Flügel in den Rücken gefallen und hatte so unsere Siegerreihen durchbrochen. Selbst ein heftiger Widerstand der unseren hatte nicht vermocht, ihn zurückzuhalten. Er marschierte in unabsehbare Kolonnen längs der Murg rechts an der Festung vorbei. Obgleich an diesem Morgen alle in der Festung unnötigen Truppen nach dieser Seite hingeworfen wurden, obgleich sie noch die verzweifelten Gefechte bei Kuppenheim und Oos hier lieferten, so glich doch das Kriegsgetümmel von heute gar bald einem in wilder Flucht aufgelösten Heer. Unsere Anstrengungen auf den Wällen Rastatts an diesem unglückseligen Tag nach dem glorreichen von gestern geben das traurigste Bild eines Kriegslebens. Die lautlose Stille nach dem gestrigen Donnerhall war nicht zu ertragen. Die Untätigkeit der braven Artilleristen, die mehr denn je auf Taten am heutigen Tag gerüstet waren, schmerzte tief. Viele hatten die Köpfe auf die Kanonen gesenkt, und doch richteten sie sich dann und wann in schwacher Hoffnung wieder empor, sendeten im Unmut ihre Kugeln auf einzelne Feinde, wenn sich diese verwegene ist in den Bereich der Festung schlichen. So unter Hoffnungslosigkeit und stummem Missmut war nach dem trüben Morgen der heiße, versengende Mittag gekommen, und der Abend nahte schon im Tal mit seiner dunklen Ratlosigkeit. Wir waren seit der Frühe noch nicht von unseren Pferden gestiegen, sondern in steter Beobachtung hin und her im Rayon geblieben. Ich hatte furchtbaren Durst gelitten, nur eine einzige Erquickung in etwas Speise war mir zuteilgeworden. Der Vereine Kalkstaub, der bei den neuen Bauten der Festung hier wehte, legte sich uns, eine ätzende Substanz, auf die Lippen und verursachte einen brennenden Durst. Stundenlang waren Anneke und ich schweigend nebeneinander geritten, sprechen konnten wir nicht mehr denn das Bewusstsein unserer verlorenen Hoffnung, unserer verlorenen Schlacht presste uns die Brust zusammen. Endlich aber brach ich das Schweigen in einer Frage an ihn: Ob wir denn wirklich verloren? Sein einfaches „Ja“ als Antwort klingt mir wie die Todesverkündung noch durch die Seele.
Das Schicksal der Festung stand fest. Ach, und dennoch, von allen Seiten drängten sich die zersprengten Scharen herbei, als wollten sie sich bergen, hier, unter den Mauern der Festung. O, hätte ich ihnen doch zurufen können, kommt, flieht mit uns, vielleicht gibt‘s noch einen Ausweg. Aber für mehr denn 6000 Menschen musste dieses große Grab sich öffnen.
„Folge mir rasch“, sprach Anneke, „warum sollen wir uns auch in dieser ohnehin verlorenen Stätte begraben lassen?“ Nach Rheinau zu, von wo aus wir noch mehrere Stunden bis zur französischen Grenze hatten, befand sich ein Tor, an diesem war der Befehl zur Schließung der Festung noch nicht ergangen; man ließ uns noch ohne Hindernis passieren. Als wir eine Strecke die Festung im Rücken hatten, begegnet uns ein Truppenkorps, geführt von Oberst Doll, bestehend aus Infanterie, Kavallerie und mehreren Geschützen. Es war in gänzlicher Unkenntnis über den Stand der Dinge, darum es sich nach Rastatt begeben wollte. Dieses retteten wir durch unsere Mitteilung von der Niederlage des rechten Flügels; gewiss ist, dass wir durch diesen Zufall etwa mehr denn tausend Kämpfer von den Kasematten gerettet haben. Wir bewegten uns nun auf den Rhein und hoffen, bei Iffezheim überzugehen. Während die Truppen sich auf der Landstraße dahin fortbewegten, ritten wir in Gemeinschaft zweier Offiziere und unsere Ordonnanzen, die uns nicht verlassen hatten, über den Rheindamm, durch waldigen Moorgrund in hastiger Eile, im stummen Schweigen. Schon dunkelte es, und wir mussten jeden Augenblick erwarten, auf feindliche Patrouillen zu stoßen. Kaum hatten wir das Strombett des Rheins, das sich hier in unzähligen Armen verzweigt und Inseln von grundlosen Sümpfen bildet, erreicht, indes noch kein Fahrzeug entdeckt, das uns ans rettende Ufer bringen sollte. Da plötzlich wendet einer von den uns begleitenden Offizieren sich um mit den Worten „Preußische Reiterpatrouille!“ Sein scharfes Auge wollte solche kaum hundert Schritte von uns erkennen. Wir warfen unsere Pferde um, sprengten durch den Wald zurück, wieder den Rhein hinab. Nachdem wir stundenlang so am Ufer hin und her vergebens nach Kähnen gespäht, die kalte Mitternacht nicht fern mehr und jeder Augenblick nun uns dem Feind näher bringen kann, nachdem unsere Pferde bereits ermattet, sehen wir kein anderes Mittel mehr, als uns auf eine schmale Landzunge, die sich da in den Rhein erstreckt und auf welcher Bündel von Reisig aufgeschichtet lagen, zu begeben, dort uns und unsere Pferde zu verbergen, während die Offiziere sich zu Fuß auf den Weg ins Gehölz machten, um einen Fischer mit seinen Kahn, der vielleicht in irgendeinem Arm des Rheins hier versteckt liegen konnte, zur Überfahrt zu bewegen. Wir waren glücklich auf das rettende Eiland gekommen, es war so schmal, dass, wenn ein Sturm die Wellen schlug, sie es ohne die geringste Schwierigkeit überspülten. Sein Teppich aus blankem Kieselgestein winkte mir zum Lager, da ich zum Umsinken erschöpft war. Allein, ich war auch so kalt; die feuchte Nachtluft, die über den Rhein blies, schnitt durch die Kleider mir, die ich am Morgen nur leicht und geeignet für die Tagesglut angelegt hatte. Mich mit einer Bluse, einem Mantel, Tuch oder dergleichen zu versehen, daran hatte ich in Rastatt nicht mehr gedacht. Mein Schlaf und meine Müdigkeit siegten über meinen schauerlichen Frost, selbst als ein nicht gelinder Regen auf uns herabfiel. Gegen diesen schützte mich so viel wie möglich die sorgende Hand Anneke‘s, die mich mit den zusammengebundenen Reisern bedeckte; mein kleines Feldhütchen musste mir zum Kopfkissen dienen, und so schlief ich dann endlich ruhig und gut wie auf seidenen Pfühlen. Ach, es war ja noch der heimische Strand, auf dem ich schlief und träumte.
„Fort, hinweg, hinweg!“, rief plötzlich, während ich so in meinem schönsten Schlummer war, eine barsche, gedämpfte Stimme: Fort! Fort! Hinweg, hinweg!“, so werden Flüchtlinge vom schönen heimischen Boden verstoßen. Ich raffte mich auf und folgte den Führer. Wir wateten durch sumpfiges Wasser hindurch von unserem Island herab zum Ufer hin.
„Lebewohl deutsche Erde, Lebewohl mein Mutterland!“, also klangs durch die Seele mir.
„Dort steht ein Kahn, er muss zweimal hinüber, denn er ist ein gebrechliches Ding, voll Wasser und fasst nur drei von uns, schleichen Sie dicht längst dem Ufer, noch eine ziemliche Strecke und Sie erreichen das Fahrzeug; nicht weit von ihm stehen preußische Vorposten, leise, leise hinein, legen sie sich nieder.“
Ich tat es willenlos, bis einige kräftige Ruderschläge des Fischers uns aus der Schussweite der feindlichen Vorposten versetzt hatten. Länger denn eine halbe Stunde irrten wir auf dem hier nur seichten Gewässer des Rheins umher. Dann brachte die schwankende Barke uns an das ungastliche Gestade Frankreichs.
Nacht und Öde umgab uns, keine Hütte am Ufer winkte mit ihrem Obdach den Flüchtlingen aus deutschen Landen. Stumm und schweigsam wanderten wir weiter durch die Nacht. Fort und fort klangs durch die Seele mir: „Lebewohl, deutsche Erde! Lebewohl, mein armes, unglückliches Mutterland.“
1 August Willich (1810-1878), ehemaliger preußischer Offizier, Mitglied im „Bund der Kommunisten“, hatte schon 1848 am „Heckerzug“ teilgenommen und befehligte nun als Oberst ein Pfälzer Freikorps. Nach Niederschlagung der Revolution Emigration in die USA, wo er im Bürgerkrieg als Brigadegeneral der Nordstaaten kämpfte.
2 Lorenz Brentano (1813-1891), Jurist und Politiker, war vor und während der Märzrevolution liberaler Abgeordneter der Zweiten Kammer der Badischen Ständeversammlung, 1848 Mitglied des Vorparlaments und der Frankfurter Nationalversammlung. Infolge der Aufstände im Mai 1849 wurde er an die Spitze der provisorischen revolutionären Regierung in Baden berufen, agierte dort aber aus Sicht der Führer des militärischen Aufstands viel zu zögerlich. Nach Niederschlagung des Aufstands emigrierte er in die USA und machte auch dort politische Karriere. 1876 wurde er ins US-Repräsentantenhaus gewählt.
3 Friedrich Engels (1820-1895) war im badisch-pfälzischen Aufstand Adjutant von August Willich. Er hatte kurz zuvor (1848) gemeinsam mit Karl Marx das „Kommunistische Manifest“ verfasst und kannte Mathilde Anneke aus Köln, wo er (ebenfalls gemeinsam mit Marx) die „Neue Rheinische Zeitung“ herausgab, während Mathilde Anneke, mit ähnlicher politischer Stoßrichtung, die „Neue Kölnische Zeitung“ leitete. Als die „Neue Rheinische Zeitung 1849 verboten wurde, empfahl Marx seinen Lesern dezidiert die Lektüre der Anneke-Zeitung.
4 Gottfried Kinkel (1814-1882) war Professor in Bonn und demokratischer Politiker (Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses), bevor er sich den Freischärlern anschloss.
5 Tirailleurs = Schützen.
Des Christen freudiger Aufblick zum ewigen Vater, Wesel 1839.
Der Heimathgruß. Eine Pfingstgabe, Verlag Johann Bagel, Wesel 1840.
Damen Almanach, Verlag August Prinz, Wesel 1842.
Das Weib im Conflict mit den socialen Verhältnissen (1847), in: Lesebuch Mathilde Franziska Anneke (s.u.)
Der politische Tendenz-Prozeß gegen Gottschalk, Anneke und Esser. Verhandelt vor dem Assisen-Hofe zu Köln am 21., 22. und 23. Dezember 1848, hrsg. nach den Akten, nach Mittheilungen der Angeklagten und nach stenographischen Aufzeichnungen der mündlichen Verhandlungen, Verlag Neue Kölnische Zeitung, Köln 1848.
Memoiren einer Frau aus dem badisch-pfälzischen Feldzuge, Verlag F. Anneke, Newmark 1853; Neudruck im Verlag tende, Münster 1982.
Das Geisterhaus in New-York. Ein Roman, Verlag Hermann Constable, Jena 1864.
Die gebrochenen Ketten. Erzählungen, Reportagen und Reden (1861-1873), herausgegeben von Maria Wagner, Stuttgart 1983.
Lesebuch Mathilde Franziska Anneke. Zusammengestellt von Enno Stahl. Bielefeld, Köln 2015 (Bücher der Nyland-Stiftung).
Maria Wagner: Mathilda Franziska Anneke in Selbstzeugnissen und Dokumenten. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 1980.
Manfred Gebhard: Mathilde Franziska Anneke, Neues Leben, Berlin 1988.
Norgard Kohlhagen: Mehr als nur ein Schatten von Glück. Die Geschichte der Mathilde Franziska Anneke, die 1849 im badisch-pfälzischen Feldzug mitritt, rororo Rotfuchs, 1990.
Klaus Schmidt: Mathilde Franziska und Fritz Anneke. Aus der Pionierzeit von Demokratie- und Frauenbewegung, Joachim Schmidt von Schwind Verlag, Köln 1999.
Diana Ecker: Der Freiheit kurzer Sommer. Auf Mathilde Franziska Annekes Spuren durch die pfälzisch-badische Revolution von 1849, Verlag Regionalkultur, Ubstadt-Weiher 2012.
Karin Hockamp, Wilfried Korngiebel, Susanne Slobodzian (Hrsg.): Die Vernunft befiehlt uns, frei zu sein! Mathilde Franziska Anneke (1817–1884). Demokratin, Frauenrechtlerin, Schriftstellerin, Münster 2018.
Irina Hundt: Mathilde Franziska Anneke (1817–1884): Eine radikale Demokratin auf zwei Kontinenten, in: Frank-Walter Steinmeier (Hrsg.), Wegbereiter der deutschen Demokratie. 30 mutige Frauen und Männer 1789–1918, München (C.H.Beck), 2021, S. 199–212.
Viktorija Bilić/Alison Clark Efford (Hrsg.): Radikale Beziehungen. Die Briefkorrespondenz der Mathilde Franziska Anneke zur Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs, Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2023.
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